Was leistet AGUS?
Das Umfeld gerät aus den Fugen, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt. Warum 200 Angehörige aus ganz Deutschland zur AGUS-Jahrestagung ins Fichtelgebirge reisen, erklärt Organisator Jörg Schmidt aus Bayreuth.
Was leistet AGUS?
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Der Verein Angehörige um Suizid ist die zentrale Selbsthilfeorganisation in Deutschland für Menschen, bei denen sich ein nahe stehender Angehöriger das Leben genommen hat. Ziel ist, den Trauernden Halt zu geben und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Die Selbsthilfegruppen sind das wichtigste Angebot – mittlerweile gibt es bundesweit 110. Hier geben Betroffene ihre Kompetenz weiter und vermitteln Wege aus der Krise. Erfreulicherweise ist auch während der Corona-Zeit keine einzige Selbsthilfegruppe aufgelöst worden – im Gegenteil, es haben sich neue gebildet. Getragen wird der Verein AGUS vom ehrenamtlichen Engagement der Gruppenleiter, Vorstände und Mitglieder.
Wo gibt es in der Region Hilfe für Trauernde nach einem Suizid?
In Bayreuth, Lichtenfels und Bamberg sowie in Reichenbach im Vogtland finden sich Selbsthilfegruppen.
Was bringt die AGUS-Jahrestagung für ganz Deutschland ausgerechnet nach Bad Alexandersbad?
Der Verein AGUS hat sich 1995 in Bayreuth gegründet. Hier befindet sich bis heute die Bundesgeschäftsstelle des größten und ältesten Vereins, der sich für die Interessen Suizidtrauernder einsetzt. Rund 25 Jahre traf man sich zur Jahrestagung in Bad Berneck. Aus Platzgründen musste AGUS dann umziehen. Nun findet die Tagung mittlerweile zum vierten Mal in den modernen und hellen Räumen des Evangelischen Bildungszentrums in Bad Alexandersbad statt.
Woher kommen die Teilnehmer?
Es reisen rund 200 Interessierte aus ganz Deutschland an. Die meisten kommen von sehr weit her – ob aus Kiel, Greifswald, München oder Ulm. Etliche Teilnehmer sind jedes Jahr wieder dabei. Aus der Region selbst kommen die wenigsten – nur rund zehn Personen.
Was ist das Ziel dieser Jahrestagungen?
Suizidbetroffene zusammenzubringen, um ihnen die Möglichkeit der Begegnung, des Austauschs und der Information zu geben, sind die wesentlichen Elemente des Treffens. Zwei Vorträge wollen Informationen vermitteln, Workshops und Gesprächsgruppen bieten die Gelegenheit zum Austausch. Abseits des Programms findet sich genug Raum und Zeit für vielfältige Begegnungen.
Warum gibt es für Kinder und Jugendliche ein eigenes Programm namens Young Survivors?
Das ist der Erfahrung geschuldet, dass jüngere Menschen eher mit Gleichaltrigen als mit älteren Menschen über so schwerwiegende Probleme reden wollen. Kinder und Jugendliche haben eine andere Art, mit Trauer umzugehen. Kinder wollen mit den Händen etwas machen, Jugendliche keinesfalls in einem Stuhlkreis sitzen, den jemand moderiert. Da braucht es andere Formen; dafür haben wir eigens ausgebildete Experten im Team. Wir unterteilen die Young Survivors in drei Gruppen: acht bis zwölf Jahre, 13 bis 18 Jahre und 19 bis 25 Jahre. Zu unserer Jahrestagung kommen in der Regel 15 bis 20 Kinder und Jugendliche.
Wie viele Menschen nehmen sich in Deutschland pro Jahr das Leben?
2021 und 2022 ist die Zahl Corona-bedingt sehr stark angestiegen. Vorher waren es über 9000, danach über 10 000 Menschen.
Wer ist besonders gefährdet?
Es trifft den reichsten Milliardär und den ärmsten Schlucker. Für Suizidalität gibt es in den aller seltensten Fällen nur einen Faktor, sondern meistens verschiedene Gründe. Die Statistik zeigt, dass 75 Prozent der Betroffenen Männer sind.
Insgesamt betrachtet, kommt Suizid in der Altersspanne von 40 bis Anfang 60 am häufigsten vor. Zugenommen haben aber auch die Suizide älterer Menschen.
Woran liegt das?
Zum einen daran, dass die Menschen immer älter werden – aber auch daran, dass sich das soziale Gefüge ändert. Die Kinder sind weit weg, die Enkel auch – oder es gibt gar keine. Wenn dann noch Erkrankungen dazukommen, die das Leben durch Einschränkungen und Schmerzen sehr stark beeinflussen, sinkt der Lebenswille. Dann stellt sich die Frage: „Für wen lebe ich noch?“
Wie sieht die Suizid-Statistik bei unter 18-Jährigen aus?
Es gibt immer mehr Kinder und Jugendliche, die sich das Leben nehmen – allein in Bayern taten das im Jahr 2022 acht Kinder unter 14 Jahren. In der Altersklasse zwischen 15 und 24 Jahren ist Suizid die zweithäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen.
Was sind die häufigsten Gründe dafür, dass jemand nicht mehr leben möchte?
In den allermeisten Fällen liegt eine psychische Erkrankung zugrunde, meistens eine Depression. Dann kommen in der Regel noch verschiedene Probleme dazu wie familiäre Sorgen, auseinandergehende Beziehungen, eine schwere Erkrankung, oder der Verlust des Berufs, verbunden mit finanziellen Auswirkungen. Meistens summieren sich mehrere Faktoren. Normalerweise schafft man es mit der eigenen Resilienz (psychischen Widerstandskraft), solche Krisen zu überstehen. Wenn aber zusätzlich eine psychische Erkrankung im Spiel ist, sind die Widerstandskräfte zu schwach.
Ist Suizid immer noch ein Tabu?
Nicht mehr so stark wie noch vor 30, 40 Jahren, aber teilweise schon noch. Das liegt auch an den Schuldvorwürfen, die Angehörige sich machen: „Ich hätte doch etwas merken müssen“, meinen sie. Deshalb schämen sie sich und gehen weniger offen mit dem Suizid um. Viele Angehörige denken, es gibt es eine Zuschreibung. Das heißt, sie fürchten eine Automatismus, der andere denken lässt: „Was müssen das bei denen für Zustände sein! Denn wenn alles normal wäre, dann brächte sich doch keiner um.“ Deshalb spielt die Scham immer noch eine Rolle, obwohl sich von der sozialen Verurteilung her schon vieles gebessert hat.
Sechs unmittelbar Betroffene lässt jeder zurück, der sich das Leben nimmt, erklärten Sie 2019 in einem Interview mit dieser Zeitung. Gilt das immer noch?
Die damalige Zahl hat ein bekannter Suizidforscher Anfang der 1970er Jahre in den Raum geworfen. Seitdem hat sich einiges geändert, deshalb geht die aktuelle Forschung inzwischen von höheren Zahlen aus. Denn heutzutage fasst man Kreis der Betroffenen über die Familie hinaus – Freunde, Kollgen und Nachbarn zählen ebenfalls dazu. Denn auch diese Menschen nimmt ein Suizid unter Umständen emotional stark mit. Aber wie bei jedem Todesfall lässt sich dies nicht pauschal sagen: Einer stirbt völlig einsam, der andere umgeben von Betroffenen.
Was unterscheidet Suizid-Trauernde von anderen, die jemanden verlieren?
Suizid ist eine Todesart, die mit Gewalt verbunden ist und bei der die Hinterbliebenen vor einer Situation stehen, in die sie überhaupt nicht einbezogen worden sind. Daher kommt der Tod für die Angehörigen so plötzlich. Die drei Komponenten, die es besonders schwieriger machen, sind also: Gewalt, unbeteiligt, plötzlich. Dadurch wird der Trauerprozess ein Stück weit verzögert, weil sich Angehörige zunächst mit anderen Problemen beschäftigen: „Musste er leiden?“ „Hat er es sich vielleicht in letzter Minute noch anders überlegt?“ „Wie lange dauerte der Sterbeprozess?“ Je weniger man weiß, desto schlimmer werden die Schreckensszenarien, die das Trauern verhindern. Dazu kommt die Schuld als ein permanenter Begleiter in der Trauer. Angehörige suchen die Schuld oft bei sich selbst, manchmal auch bei Dritten, zum Beispiel bei Ärzten oder ein Stück weit sogar beim Toten selbst. Manche Hinterbliebene sind auch wütend: zum Beispiel die junge Ehefrau, die mit einem neu gebauten Haus, Schulden und Kleinkindern allein dasitzt oder der Witwer, der nach Jahrzehnten mit seiner Frau einsam zurückbleibt.
Wie wirkt sich ein Suizid auf die psychische Gesundheit der Trauernden aus?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Angehörige öfter depressive Phasen haben. Bei Hinterbliebenen steigt die Suizidalität. Denn sie stellen sich die Frage: Warum soll ich noch weiterleben? Der Worst Case ist, wenn sich das eigene Kind das Leben nimmt.
Welche massiven Auswirkungen eine Depression hat, kann sich kaum jemand vorstellen, der nicht betroffen ist. Sprüche wie „stell’ dich doch nicht so an – denke an deine Frau, deinen Mann oder deine Kinder“ helfen nicht. Viele halten eine Depression noch immer für ein Zeichen vermeintlicher Schwäche, weil man sie nicht sehen kann – das macht sie schwerer begreifbar als eine gebrochene Hand.
Was ist das größte Problem von Angehörigen nach einem Suizid?
Das Gefühl eines sehr, sehr großen Schmerzes. Wir hören immer wieder die Frage: „Wann lässt dieser Schmerz nach, wann wird es besser?“
Etliche Mitarbeiter bei AGUS sind selbst Betroffene – Sie auch?
Nein, ich musste weder im familiären Umfeld noch im engeren Freundeskreis einen Suizid erleben. Als meine Vorgängerin bei AGUS aufhörte, fragte man mich, ob ich die Bundesgeschäftsstelle leiten möchte. Seit Januar 2017 bin ich hier zuständig für die Organisation neuer Projekte, für die Öffentlichkeitsarbeit, die Koordination großer Veranstaltungen wie das Jahrestreffen und für die Finanzierung. Ich bin Erwachsenenpädagoge, 43 Jahre alt, lebe in Stadtsteinach und habe vorher beim evangelischen Bildungswerk in Bayreuth gearbeitet.
Wie schwer ist es, sich jahrelang um Trauernde zu kümmern?
Klar gibt es Erlebnisse von Betroffenen, die einem nahe gehen. Aber ich wage zu behaupten, dass ich eine gute psychische Belastbarkeit besitze. Unsere Aufgabe in der AGUS-Bundesgeschäftsstelle ist es, Menschen zuhören. So versuchen wir, Trauernde in ihrer Verzweiflung aufzufangen. Im Kollegenkreis sprechen wir dann natürlich über das, was wir hören, erleben und tun. So helfen wir uns gegenseitig, es zu verarbeiten.
Die AGUS-Jahrestagung im Evangelischen Bildungszentrum Bad Alexandersbad findet von 11. bis 13. Oktober statt.
Nach einem musikalischen Auftakt am Freitag berichtet Matthias Salomo aus Dessau am Samstag um 10 Uhr von seinem Umgang mit dem Suizid seiner Mutter und weiteren in seiner Familie. Salomo leitet inzwischen seit sieben Jahren eine AGUS-Gruppe und engagiert sich für Prävention. Am Samstagnachmittag stehen Gesprächsgruppen und Workshops zur Wahl. Am Sonntag um 9.30 Uhr spricht der Psychologe Dr. Jens Uwe Martens aus München über Vergebung nach einem Suizid.
Wer sich tief verzweifelt fühlt,
sollte die Telefonseelsorge anrufen unter den kostenlosen Hotlines 0800 1110/111 oder /222.
Mehr Infos unter agus-selbsthilfe.de