Sprachkünstlerin Brigitte Kronauers postume Romangeschichten

Brigitte Kronauer hat ihr letztes Buch "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" betitelt. Foto: Daniel Reinhardt Foto: dpa

«Das Schöne, Schäbige, Schwankende» nennt Brigitte Kronauer ihr letztes großes Buch. Viele hinreißende Miniaturen und einige längere Erzählungen zeigen eine Autorin auf der Höhe ihrer Kunst.

 
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Berlin - Noch einmal ein präzises Wimmelbild, ein prallvolles Panorama unserer brüchigen Gegenwart.

In ihrem letzten Buch "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" erweist sich Brigitte Kronauer, die am 22. Juli im Alter von 78 Jahren in Hamburg gestorben ist, erneut als meisterhafte Sprachkünstlerin und Geschichtenerzählerin, die alle Abgründe zwischen Liebe, Leid und Tod scheinbar mühelos auslotet.

Aber diese fast 600 Seiten Prosa kommen nicht als pompöses Zeitgemälde daher, sondern erweisen sich als feinnerviges Passagenwerk, zusammengehalten von der nie nachlassenden Energie dieser Autorin, die auch die unscheinbarsten Details zum Leuchten bringt.

Die Ich-Erzählerin hat sich mutterseelenallein in das Haus eines Ornithologen-Ehepaars zurückgezogen und wird bald von den Vogelbildern an den Wänden bedrängt, einer "imaginären Tapete". Die stummen Tiere erinnern die Ruhesuchende an lebende Menschen, und dann breitet die Autorin ihren Fundus vor uns aus, weit über 30 Geschichten, alle nur um die zehn Seiten lang. Da begegnen uns dann Ehepaare und Einzelgänger, Millionenerben und Arbeitslose, Handwerker und Opernsängerinnen, Altenpfleger und Gärtner, ein Jugendlicher in der Shopping-Mall und ein Mann im Gebirge, der um seine Frau trauert.

Immer neue Individuen tauchen auf, denen die Erzählerin auf den Grund geht. Dabei geht es oft um die Kippmomente im Leben, die prekären Augenblicke, die feinen Risse in der Wirklichkeit. In einem märchenhaft dekorierten Badezimmer in St. Petersburg rekapituliert die geschiedene Ilona ihre Existenz. Oder Rosa, die bescheidene, sehr naive Krankenhausköchin, die der Erzählerin und ihrer eleganten Freundin in der S-Bahn gegenübersitzt. Ein bleicher, müder Alltagsmensch, den man leicht übersieht. Aber Rosa hat ihr eigenes, einsames Leben, liebt ihre Tiere, und gibt den beiden Damen am Ende 50 Cent, weil sie ihr so lange zugehört haben.

Das sind eindringliche Menschenporträts, die man so leicht nicht mehr vergisst. Brigitte Kronauer erforscht den Eigensinn in uns allen und taucht selbst scheinbar Banales in mitunter überirdisches Licht. Aber oft hält das Leben seine Versprechungen nicht ein, die Verluste überwiegen. Da sitzt die etwas füllige Franziska in Rom auf einer Mauer am Tiberufer, ein hübscher Italiener kommt vorbei, die Deutsche träumt sekundenschnell und über drei Buchseiten lang von einer rauschenden Affäre, bis der Taschendieb davonrauscht.

Die Betrogene treffen wir wieder in einer längeren Geschichte, in der aber immer mehr die Ich-Erzählerin selbst in den Blick rückt. Sie, die souverän ihre Figuren ausstaffiert hatte und gleich noch elegante Analogien zu allerlei Federvieh mitlieferte, rutscht in eine Krise und macht einen sehr zerrupften Eindruck. Die Kräfte schwinden, die Liebe zu ihrem Mann Paul wird fadenscheinig. Die schöpferische Arbeit hat eine dunkle Kehrseite: "Dem berüchtigten weißen Blatt, aus dem man gern eine Legende macht, sitzt man ja nicht tatsächlich gegenüber. Man ist selbst das leere Blatt! Man schreibt auf der eigenen Leere Figuren, die man aus der spurlosen Weiße in sich selbst hervorpresst." Mühsam schält sich die Erzählerin wieder aus dieser Schockstarre heraus. Mit einer wundersamen Katzenrettung mitten im kältesten November kommen auch die Kräfte zurück.

In der letzten langen Erzählung "Grünewald" erweist Brigitte Kronauer noch einmal dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald ihre Reverenz. Das um 1515 entstandene Kunstwerk mit seinen drei Schauseiten zu Tod und Auferstehung Christi diente schon in Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel" (2013) als Hintergrundmotiv. Jetzt treten noch einmal die von Leid gezeichneten Figuren der Kreuzigung in den Vordergrund. Der Blick des sterbenden Jesus geht nicht zum strengen Schriftgelehrten, sondern wendet sich nach links zu den trauernden Frauen. Ein Sinnbild auch für diese Literatur, die sich nicht um Dogmen kümmert, sondern sich den Menschen zuwendet.

- Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 596 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-608-96412-7.

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