Serie Selbsthilfegruppen Aphasie: Wenn Worte nicht zu finden sind

Peter Rauscher
Reinhold Richter ist nicht nur Sprecher der Aphasie-Selbsthilfegruppe, sondern auch Vorsitzender des Behindertenbeirats der Stadt Bayreuth. Foto: /Peter Rauscher

Nach Krankheit oder Verletzung seine Sprache zu verlieren, ist eine brutale Erfahrung. In der Selbsthilfegruppe Aphasie in Bayreuth unterstützen sich Betroffene gegenseitig und machen sich Mut. Teil fünf der Kurier-Serie zu Selbsthilfegruppen.

 
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Reinhold Richter war immer einer, der anderen Menschen in Not geholfen hat. Dann traf ihn selber ein Schicksalsschlag. Er kämpfte sich zurück und nutzt bis heute seine Erfahrungen daraus, um Leidensgefährten in ihrer Not beizustehen.

Lebensbedrohliche Hirnblutung

Seit seiner Jugend war Richter beim Roten Kreuz in Bayreuth ehrenamtlich sehr aktiv, fuhr im Rettungswagen mit, war Ausbilder und Mitglied in der Bereitschaftsleitung. Hauptamtlich arbeitete er viele Jahre als Krankenpfleger in der Hohen Warte, wo unter anderem hirngeschädigte Menschen operiert und behandelt werden. Im Oktober 1999 verunglückt Richter im Dienst schwer – Einzelheiten dazu möchte er nicht sagen. Es kommt zu einer lebensbedrohlichen Hirnblutung und infolgedessen zu einer Halbseitenlähmung.

Zehn epileptische Anfälle am Tag

Der Krankenpfleger ist nun selber auf den Rollstuhl angewiesen. Er hat außerdem immer wieder epileptische Anfälle, manchmal zehn am Tag. Und er leidet unter brutalen Kopfschmerzen. Richter kann nicht mehr lesen, schreiben und sprechen, weil sein Sprachzentrum im Gehirn geschädigt ist. Nach dem Krankenhaus muss er ein Jahr auf eine Spezialreha, danach wieder in die Tagesklinik der Hohen Warte. Ganz langsam kämpft er sich wieder ins Leben zurück. „Ohne meine Frau und meine drei Töchter hätte ich’s vermutlich nicht geschafft“, sagt er.

Angeschaut wie Idioten

Richter ist 45 Jahre alt und von einem Tag auf den anderen behindert. Aphasie heißt auf griechisch ohne Sprache. Aphasiker sind Menschen, die genau wissen, was sie sagen möchten, es aber nicht schaffen, das auch auszusprechen. Richter erzählt, wie er einmal vom Therapeuten die Aufgabe bekam, in einer Bäckerei ein Croissant zu kaufen. Der Laden war voller Leute, der Therapeut blieb draußen. „Ich sah das Wort vor meinem inneren Auge, aber als ich dran war, kam aus meinem Mund statt „Croissant“ das Wort „Eisenbahn“. Er konnte sich auch nicht verständlich machen, indem er drauf zeigte, denn das Gebäck lag nicht in der Verkaufsvitrine. „Die Verkäuferin blickte verständnislos drein, die Leute hinter mir murrten: Der Idiot soll gehen, wenn er nicht weiß, was er will.“ Solche Situationen seien typisch für Aphasiker. „Sie werden angeschaut, als wären sie Idioten. Dabei können sie ganz normal klar denken, bringen die Worte aber wegen der Gehirnschädigung nicht heraus.“

Der Start der Selbsthilfegruppe

Richter und seine Frau fühlen sich damals alleingelassen, können mit niemandem über ihre Situation und Probleme sprechen und kommen nur schwer an Informationen über das Leben mit der Behinderung. Im Aphasiker-Zentrum Oberfranken rät ihm die damalige Leiterin Heike Frankenberger, er soll doch eine Selbsthilfegruppe gründen. Richter, der Engagierte, zögert nicht, gründet die Jungen Aphasiker Oberfranken mit anfangs acht Teilnehmern. Man trifft sich einmal im Monat in der Reha-Klinik am Roten Hügel, erzählt sich gegenseitig seine Erlebnisse und Probleme, lädt Referenten zu Vorträgen, macht Spiele – und genießt die Gemeinschaft von Menschen, die einen trotz Sprachbehinderung verstehen.

Rund 50 Betroffene sind dabei

Nach dem Tod von Horst Bierhals, Leiter der Interessengemeinschaft der Aphasiker, fusioniert die Gruppe mit der um Reinhold Richter und benennt sich um in „Selbsthilfegruppe Aphasie Bayreuth Stadt und Land“. Rund 50 Betroffene im Alter von 30 bis 75 Jahren gehören der neuen Gruppe an, die durchschnittliche Teilnehmerzahl bei den monatlichen Treffen liegt bei rund 30.

Erlebnisse, die unter die Haut gehen

Weil die Reha-Klinik während der Pandemie ihre Pforten schließen muss, weicht man aus, trifft sich in Biergärten und zuletzt im Gemeindesaal von Hummeltal. Für die Treffen jeden zweiten Samstag im Monat von 13 bis 16 Uhr kocht Reinhold Richter Kaffee, den Kuchen bringt jedes Mal ein anderer mit. Nach einem offiziellen Teil mit Fachvorträgen gehört die letzte Stunde dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Da kommen Dinge zur Sprache, die auch Richter unter die Haut gehen. Der eine wird wegen Unterschriftsfälschung angezeigt, weil seine Unterschrift unter einen Behördenantrag zu krakelig und unleserlich war. Ein anderer klagt, seine Frau behandle ihn wie ein kleines Kind, lasse ihn nichts mehr selber machen. Wieder ein anderer wird von seiner Partnerin verlassen, weil sie nicht mit einem „Krüppel“ zusammenleben will. „Was gesagt wird, verlässt den Raum nicht“, sagt Richter. Man kann sich ausweinen, sich Ratschläge von den Erfahrenen in der Gruppe holen. Wer zu einer Selbsthilfegruppe kommt, muss dafür nichts zahlen.

Verständnis trotz Sprachlosigkeit

Jeder Teilnehmer hat seine ganz eigene Geschichte und ganz individuelle Beeinträchtigungen: Die Spanne reicht von Menschen, die wie Richter irgendwann wieder fast ganz flüssig sprechen können bis zu anderen, so genannten Global-Aphasikern, die immer nur ein Wort oder einen Laut herausbringen. Richter erzählt von vier Gruppenmitgliedern, alle vier Global-Aphasiker. Manchmal kommen sie bedrückt zum Treffen, dann aber spielen sie zusammen Mensch-ärgere-Dich-nicht. Sie verstehen sich trotz ihrer Sprachlosigkeit, weil sie sich gut kennen. Sie lachen und haben Spaß miteinander.-Solche Erlebnisse sind für Richter der größte Lohn für sein Engagement: „Es erfüllt mich mit tiefer Freude.“

Info: Aphasie Bayreuth Stadt und Land, Reinhold Richter, Telefon 09201/7767, Mobil: 0160/92676342, Reinhold.Richter@gmx.de

In der Serie Selbsthilfegruppen bereits erschienen:

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