Seit 43 Jahren in Michelfeld Christine und ihre Vögel

Rosi Thiem
Christine Turtschan (links) mit ihrer Mentorin Foto:  

Christine Turtschan hat bei Regens Wagner eine Leidenschaft und eine neue Heimat gefunden

 
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Michelfeld - „Horch, der schreit schon wieder nach seiner Mama“, sagt Christine Turtschan und zeigt nach oben. Dort spitzt eine kleine Amsel aus dem Nest und schreit mit weit geöffnetem Schnabel nach den Eltern. „Der Kleine hat Hunger“, erzählt die 65- Jährige.

Sie hat schon den Eimer bereitgestellt, um wieder frische Sonnenblumenkerne einzufüllen. „Damit laufe ich jeden Morgen los und schaue nach den Futterstellen“, erklärt die Regens Wagner-Mitbewohnerin. „Ich bin Frühaufsteherin und mach das schon ab 6.30 Uhr.“ Das macht sie schon 15 Jahre lang jeden Tag. „Hier habe ich schon heute Morgen gefüttert, da kommt nichts mehr hin“, sagt sie und zeigt auf ein buntes Futterhäuschen. Einzelne Kerne sind schon ausgepickt, nur die Schale blieb zurück. „Die Blaumeisen und die Spatzen hatten schon Hunger“, freut sich die gebürtige Rostockerin. Dann kontrolliert sie den Platz unter einer mächtigen Tanne und den Futterspeicher daneben im Laubbaum. „Früher hatte ich einen Hund. Nun kümmere ich mich um die Vögel. Das ist auch sehr wichtig, damit die Jungtiere das Nest verlassen können.“

Bei Regens Wagner eine Heimat gefunden

Christine Turtschan, die freundschaftlich nur mit ihrem Vornamen angesprochen werden möchte, sagt, sie sei am Ziel angekommen: „Ich bin jetzt schon so lange hier. Heute weiß ich, ich habe endlich eine Heimat gefunden. Alle Mitbewohner aus meiner Mariengruppe und die Mitarbeiterinnen sind sehr nett. Ich komme mit allen gut aus, darf hier wohnen und arbeiten“, sagt sie mit leuchtenden Augen.

Sie kam als sechstes von elf Kindern zur Welt. Vor dem Mauerbau ging die Familie in den Westen. Als die Mutter starb, war sie gerade mal zwölf Jahre alt. „Ab da war nichts mehr, wie es einmal war. Es ging nur noch abwärts“, erinnert sie sich. „Ich hatte mehrere Nervenzusammenbrüche. Der Halt und die Bodenhaftung waren weg. Die Jugendfürsorge hat damals gesagt, ich soll hierherkommen, da sei ein gutes Zuhause“, erzählt sie.

Seit ihrem 22. Lebensjahr ist sie nun in Michelfeld und wird hier betreut. „Die Mitarbeiterinnen behandeln mich wie eine Freundin. Für mich sind die Klosterschwestern wie echte große Schwestern. Ich möchte nicht mehr weg“, betont sie. Plötzlich bricht sie ab: „Jetzt ist die Mutter gekommen und hat etwas für den Jungen gebracht“, zeigt sie gespannt zum Baum. Glücklich bemerkt sie: „Im Sommer brauche ich dafür täglich nur eine halbe Stunde. Im Winter geht schon mal eine ganze Stunde zum Füttern drauf. Da gibt es dann auch mal einen Meisenknödel, weil die Vögel im Winter mehr Fett brauchen. Dann stapfe ich auch durch den tiefen Schnee“, erzählt sie und versichert: „Das macht mir nichts aus – Hauptsache, ich vergesse keinen der 20 Futterplätze für meine Vögel und den Eichhörnchenplatz unter der Thuja mit den Walnüssen.“

Das Futter – zentnerweise – wird von der Einrichtung gestellt. „Aber die Erd – und Walnüsse spendieren die Schwestern von ihrem Taschengeld“, verrät Christine verschmitzt. Unablässiges Vogelgezwitscher begleitet uns auf dem Rundweg im Klausurengarten. „Am Morgen ist es noch lauter“, erklärt Christine. „Ich bekomme für mein Füttern immer ein tägliches Gratiskonzert.“ Erst kommen die Vögel – später am Tag arbeitet Christine im Gemüsegarten und im Hofladen. „Einmal“, erzählt sie aufgeregt, „saßen vier Starenjunge hungrig im Nest. Die Mutter war tot. Das war sehr traurig, aber es ging gut aus.“ Eine Regens Wagner- Mitarbeiterin brachte ihren Vogelkäfig mit und zog sie fachkundig und liebevoll zu Hause auf. „Im Klausurengarten des Klosters haben wir sie dann wieder freigelassen. Hinaus in die Freiheit, wo sie hingehören“, freut sich Christine heute noch.

In der Ecke neben den Kreuzwegsäulen des Klostergartens ist ein Igelplatz mit viel altem Laub angelegt. „Im Moment ist kein Igel da. Aber die Tiere kennen ihren Platz genau und kommen, wenn sie ihn brauchen“, erklärt sie.

Fledermäuse, Insekten und Eichhörnchen

Die Eichhörnchen – ein dunkelbraunes und ein helles – lassen sich im Moment auch nicht sehen. „Die schnappen sich eh immer schnell die Nüsse und schwupp sind sie wieder weg“ sagt Christine grinsend. Im Herbst finden Zwischenbewohner wie Fledermäuse und Insekten Unterschlupf in den Kobeln. Im zeitigen Frühjahr werden die dann wieder ordentlich gereinigt für die neue Generation an Singvögeln.

Nun stößt Schwester Sigbalda dazu. Sie hat das Vogelprojekt treuhänderisch an Christine übertragen. Zufrieden lächelt die 83-jährige Ordensschwester. „Schwester Madlen und ich haben das Vögelfüttern vor ungefähr 50 Jahren hier angefangen. Wir haben bescheiden begonnen und es hat sich dann entwickelt. Wir machen das im Sinne des Heiligen Franziskus, der ja auch die Vogelpredigt gehalten hat. Es ist herrlich, das Leben der Vögel zu beobachten und von ihnen zu lernen“, zeigt die Heilerziehungspflegerin und Gärtnerin auf. „Manchmal streiten auch die Vögel und haben Futterneid, so wie die Menschen.“ Aber meist gehe es friedlich zu.

Das Gartenpersonal baut die Nistkästen, Starenkobel, Futterhäuschen und Insektenhotels. „Die Vögel brauchen das ganze Jahr Nahrung, sonst können sie ihre Jungtiere nicht versorgen“, erklärt Schwester Sigbalda. In vielen Gärten finden die Vögel keine Nahrung, weil die zu aufgeräumt seien oder Pflanzenschutzmittel in der Natur keine gesunde, natürliche Nahrung zuließen. Die Ordensfrau zeigt auf eine Buche: „Wenn ein Baum gefällt wird, muss ein neuer Baum gepflanzt werden. Schon allein wegen der Vögel und dem Nahrungsangebot“, fordert sie.

Das Vogelprojekt findet sie gut für die Bewohner und Mitarbeiter bei Regens Wagner. „Bei uns treffen sich Stare, Amseln, Spatzen, Zeisige, Dompfaffen, Blaumeisen, Rotkehlchen, Wildtauben und viele Krähen“, zählt sie auf. „Natürlich gibt es auch Leute, die sagen: ‚So ein Quatsch, ihr müsst doch die Vögel nicht im Sommer füttern’ – doch wie gesagt, das Nahrungsangebot der Vögel wird durch die aufgeräumten Gärten leider immer weniger und wenn wir ihnen das ganze Jahr über was geben, dann finden sie den gewohnten Platz auch im Winter wieder.“

Die Heilerziehungspflegerin, die zusätzlich die Gartenbauschule in Veitshöchheim besuchte, findet die Projekte in der Natur besonders wichtig. Gerade bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. „In der Natur bekommt man immer etwas zurück. Achtsamkeit und Zuwendung – da können wir von den Tieren hier manchmal etwas lernen. Der gesunde Humor gehört auch dazu und dass mal etwas im Alltag nicht klappen kann“, zählt Schwester Sigbalda auf. „Wir müssen mit offenen Augen, guten Ohren hellhörig und mit frohem Gemüt durch die Gegend gehen, dann passt es. Es geht auch nichts über menschliche Zuwendung von innen heraus“, weiß die 83-jähringe Dillinger Franziskanerin aus ihrem langen Lebenserfahrungsschatz.

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