Schulpädagoge Eltern können keine Lehrer sein

red
Schule motiviert anders als Eltern, sagt Fabian Dietrich. Foto: red Quelle: Unbekannt

BAYREUTH. Für die meisten Schüler hat eine weitere Woche Homeschooling begonnen. Die aktuelle Praxis von „Aufgabenversenden“ kann Unterricht nicht kompensieren und ist „auch symbolischer Natur“, sagt Prof. Fabian Dietrich, Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth. Er warnt vor zu hohen Ansprüchen: „Eltern können Schule nicht simulieren, und keiner kann erwarten, dass in Zeiten der Aussetzung des Unterrichts Schüler und Schülerinnen diesen Wegfall eigenständig zu Hause ausgleichen.“ Dietrich fordert von Lehrern, Lehrerinnen und Schulen klare Aussagen, was erwartet wird, und rät Eltern zu Gelassenheit.

 
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Wie schätzen Sie die aktuelle Unterrichtsversorgung ein?

Fabian Dietrich: Zweifelsohne bedingen die gegenwärtigen Schulschließungen für alle Beteiligten eine komplett neue Situation. Die Fortsetzung von Schule ohne Unterricht ist aber paradox, weil Unterricht als face-to-face-Interaktion Schule im Kern ausmacht. In dieser Situation, auf die niemand vorbereitet sein konnte, erscheint es naheliegend, zunächst auf tradierte Formen und Praktiken zurückzugreifen, nämlich das (nun z.T. virtuelle) Verteilen von Aufgaben und Arbeitsblättern und damit im wahrsten Sinne des Wortes von „Hausaufgaben“. Derartige Formate richten sich in erster Linie auf das Üben, also das Ausbilden von Routinen, und weniger auf das Lernen im Sinne eines Aneignens neuer Sachverhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Das kann durchaus trotzdem sinnvoll sein. Der normale Unterricht kann aber so nicht kompensiert werden.

 

Warum versuchen es viele Lehrer dennoch?

Dietrich: Inzwischen wurden seitens der Kultus- und Schulministerien Vorgaben gemacht, dass und wie durch die Lehrer das „Lernen zu Hause“ organisiert und begleitet werden soll. An diesen Vorgaben können und müssen sich die Lehrkräfte und Schulen orientieren. Die behelfsmäßige Weiterführung von Schule ist auch symbolischer Natur. Sie signalisiert Normalität: Die Schule als eine zentrale gesellschaftliche Institution, der für Kinder, Jugendliche und deren Familien im Alltag eine zentrale Bedeutung zukommt, existiert damit weiter. Gleichzeitig wird Bedeutsamkeit und Verantwortungsbewusstsein demonstriert: Was würde es für die gesellschaftliche Sicht auf Schule und Lehrer vor dem Hintergrund ihres ja ohnehin ambivalenten Ansehens bedeuten, wenn völlig unproblematisch und auf unbestimmte Zeit „Corona-Ferien“ ausgerufen werden könnten und würden?

 

Wie motivieren Eltern ihre Kinder, diese Aufgaben zu erledigen?

Dietrich: Inzwischen finden sich auf den Bildungsportalen der Länder und andernorts Tipps und Hinweise für Eltern. Grundsätzlich hängt das Maß der Bereitschaft, die gestellten Aufgaben zu Hause zu erledigen, insbesondere von familial tradierten grundsätzlichen Einstellungen zu und Sichtweisen auf Schule, von den schulbiografischen Erfahrungen und den individuellen Interessen der Schüler, aber auch von der aktuellen häuslichen Situation ab. Von Bedeutung ist auch die Beziehung zu den Eltern, wenn diese auf Erledigung drängen. Grundsätzliche Schwierigkeiten – also auch etwaige schulbezogene Motivationsprobleme, die über übliche und eine den meisten Eltern bekannte situative Unlust hinausgehen – treten in der aktuellen Situation möglicherweise besonders stark zutage. Es erscheint mir naheliegend, dass die gegenwärtige Situation, in der Familienmitglieder nun seit einigen Wochen schon mehr oder weniger permanent auf engem Raum und mit deutlich reduzierten Außenkontakten zusammenleben, wenig geeignet ist, entsprechende grundsätzliche Probleme zu lösen oder zu bearbeiten. Entsprechend wäre hier ein hinreichendes Maß an Gelassenheit geboten. In dem Zusammenhang mag es helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass Eltern keine Lehrer sein können und sollen.

 

Eltern empfinden es im Moment aber so: Sie sind dafür verantwortlich, dass die Kinder ihr Pensum erledigen und dass sie neue Stoffe verstehen.

Dietrich: Eine solche Delegation der Verantwortung in Richtung der Eltern wäre unangemessen und unzulässig. Schule „motiviert“ insbesondere und in ganz spezifischer Form durch ihre institutionelle und organisationale Verfasstheit, die nicht zuletzt die Differenz zu Familie und Freizeit markiert. Diese wird häufig kritisiert, ist aber, aus einer analytischen Perspektive betrachtet, hoch funktional. Schule kennzeichnet eine rigide zeitliche Ordnung (Stundenplan), eine spezifische räumliche Gestaltung (Klassenraum), tradierte und z.T. ritualisierte Interaktionsformen (Unterricht) und die in diesen Ausdruck findenden Rollen, die Schüler und Lehrer einnehmen. Dieses hohe Maß an Vorstrukturiertheit reduziert Aushandlungsbedarfe und sorgt dafür, dass das strukturell im Raum stehende Motivationsproblem im Unterricht im Regelfall wenig zutage tritt. Schüler lernen mit Eintritt in die Schule, dass in der Schule „Motivation“ unabhängig von einem genuinen inhaltlichen Interesse erwartet und eingefordert wird. Wenn nun Eltern zu Hause ihre Kinder anhalten, die gestellten Aufgaben zu erledigen, verfügen sie über diesen institutionellen Rahmen nicht und können diesen auch kaum simulieren. Möglich ist allein, auf diesen zu verweisen: Die Schulaufgaben werden dann im Zweifel nach wie vor für die Schule und nicht den Eltern zuliebe erledigt, oder eben nicht.

 

Eigenständig Themen zu erarbeiten – wie es viele Lehrer jetzt einfordern – ist das Schulkindern überhaupt möglich?

Dietrich: Bei aller denkbaren Kritik daran, dass Schule traditionellerweise nicht darauf ausgerichtet sei, die Eigentätigkeit, Selbstständigkeit und Kreativität von Schülern zu fördern, erscheint die ernsthafte Erwartung, dass in Zeiten der Aussetzung des Unterrichts Schüler diesen Wegfall „eigenständig“ zu Hause kompensieren könnten oder aber, dass Eltern nun das gegenwärtige „Homeschooling“ nutzen könnten, um schulische Mängel zu kompensieren, in verschiedener Hinsicht problematisch. Auch diesbezügliche Thematisierungen von „Selbstständigkeit“ müssen hinterfragt werden, inwieweit diese dazu dienen, die Verantwortung für Erziehung an die Zu-Erziehenden zu delegieren.

 

Was sollten Lehrer tun, um die Schüler bei der Stange zu halten? Was nicht?

Dietrich: Die Umstellung auf ein häusliches Arbeiten und der Wegfall von Unterricht erfordern auch eine Justierung der Erwartungen und Ansprüche: Was kann und soll der Fernunterricht leisten? Was soll und kann den Schülern abverlangt werden? Diesbezüglich wäre es wünschenswert, wenn Lehrer hier entsprechende Orientierung lieferten. Dies wird erleichtert durch Rückmeldeschleifen und -formate, die nicht zuletzt auch Eltern hinsichtlich der oben angesprochenen Motivations- und Strukturierungsfragen entlasten dürften. Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt der Kontakt zu den Schülern aufrechterhalten bleibt und auf neue Kommunikationsformen umgestellt wird.




 

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