Rätsel um "Klovid-19" Warum wir Toilettenpapier hamstern 

Von Nico Pointner
Foto: Martin Gerten/dpa Quelle: Unbekannt

STUTTGART. Auge um Auge, Blatt um Blatt: In der Krise horten die Deutschen Klopapier wie verrückt. Es ist das Lieblingsprodukt der Hamsterkäufer. Wie lässt sich der Hype ums «weiße Gold» erklären?

 
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Es geht längst nicht mehr um Falten oder Knüllen, es geht ums Ganze in Deutschland. Mit bangem Blick schauen viele Menschen auf die letzte Rolle. Leere Regale treiben Kunden Schweißperlen auf die Stirn. Wenn überhaupt noch was da ist, darf man in vielen Läden nur noch ein Päckchen pro Person mitnehmen.

Der Krieg ums Klopapier ist in vollem Gange. Im Netz kursieren Videos über Rangeleien an Supermarktkassen. Ein Dortmunder Bäcker heitert mit Klopapier-Kuchen seine Kunden auf. Der Hype um Klopapier scheint diese Tage mindestens so ansteckend zu sein wie das Coronavirus selbst. Einige Erklärungsversuche für den Boom.

Grundversorgung: Ist Klopapier systemrelevant? Man kann es nicht essen, sich nicht damit zudecken und es nicht als Waffe einsetzen (wenn höchstens als sehr weiches Wurfgeschoss, aber das dürfte den Angreifer wenig beeindrucken). Klopapier sichert nicht das Überleben der menschlichen Spezies - und schützt ganz bestimmt nicht vor dem Coronavirus. Dennoch gehört Toilettenpapier zur Grundversorgung in jedem Haushalt. Nach dem Spitzenreiter Nordamerika ist Westeuropa beim Verbrauch von Hygienepapier ganz vorne dabei. 

Toilettenpapier wird immer gebraucht. Schlecht wird es auch nicht. Klopapier sei nie ein Fehlkauf, den man hinterher bereue, erklärt Wirtschaftspsychologin Anja Achtziger von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. «Man kauft es sowieso routinemäßig.» Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe rät zum vernünftigen Vorrat: Wenn man mit einer Packung à 8 Rollen 10 Tage auskomme, sollte man zwei Packungen im Haus haben.

Komtrollverlust: Die Menschen fühlen sich in der Corona-Krise machtlos, stehen einem unsichtbaren Feind gegenüber. «Wenn wir uns in einer Situation ohnmächtig fühlen, Angst vor der Zukunft und um die Existenz haben, dann suchen sich viele Menschen ein anderes möglichst konkretes Gebiet, um Kontrolle auszuüben, um das Gefühl zu bekommen, ihr Leben im Griff zu haben», erklärt der Darmstädter Psychotherapeut Michael Huppertz. Klopapier stehe für Kontrolle. Mit Zwangshandlungen wie dem Hamstern soll die Angst bewältigt werden.

Reinlichkeitsbedürfnis: Unhygienische Zustände seien laut Huppertz für einige Menschen viel schlimmer als etwa Einschränkungen bei der Ernährung. «Wenn ich keine Marmelade kriege, ess ich Honig oder einfach Brot», sagt er. «Aber beim Gedanken, kein Klopapier zu haben, geraten manche Leute in Panik.» Es gehe um Sauberkeit, die intimsten Bedürfnisse des Menschen - bis hin zur eigenen Würde. «Den Deutschen ist Hygiene besonders wichtig», sagt er. «Das ist tief in unserer Kultur verankert.» Psychoanalytiker Gottfried Barth aus Tübingen verweist auf die anale Phase. Unbewusst gehe es beim Klopapierkäufer um die Vorstellung, die Bedrohung auszuscheiden und sich von der Angst zu säubern. 

Lieferketten: Hygieneartikeln werden weniger nachbestellt als etwa Lebensmittel, weil sie normalerweise weniger nachgefragt werden. Von Februar zu März 2020 ist aber der Absatz von Klopapier nach Angaben des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels um rund 700 Prozent nach oben geschossen. Damit ist jede Logistik schlicht überfordert.

«Wir freuen uns natürlich über die Aufmerksamkeit», kommentiert Michaela Wingefeld, Sprecherin des schwedischen Unternehmens Essity, einem führenden Klopapierhersteller, die Nachfrage. «Klopapier ist normalerweise nicht so das Rennerprodukt.»

Aber Wingefeld spricht auch von einem gewissen Druck in der Produktion. Am größten europäischen Standort in Mannheim haben sie diese hochgefahren, arbeiten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. «Es ist wichtig, dass wir wieder auf ein normales Level zurückkommen.»

Nachahmereffekt: Es ist ein Dilemma: Eigentlich will ja niemand hamstern. Aber ohne Klopapier will erst recht keiner dastehen. Der Mensch ist ein Herdentier. «Andere fangen an, viel Toilettenpapier zu kaufen - also mache ich es auch», erklärt Wirtschaftspsychologin Achtziger. «Und dazu kommt vermutlich noch verstärkend, dass im Job, in der Familie, unter Freunden darüber geredet wird, ob man und wenn ja wie viel Toilettenpapier bereits gehortet hat.» Die Außenseiter werden nervös - und besorgen sich selbst ein paar Rollen zur Beruhigung. Durch diesen Teufelskreis wird der Mangel zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Kulturelle Eigenheiten: Michaela Wingefeld berichtet aus Fabrikanten-Sicht von einer gestiegenen Nachfrage nach Klopapier auch in anderen Ländern. Als in China das Coronavirus ausgebrochen ist, habe man in Deutschland bereits die Bestände in den Lagern hochgefahren. «Wir denken, dass das Hamsterphänomen sich schneller verbreitet als das Coronavirus.»

Klopapier wird aber längst nicht überall gehortet. An vielen Orten etwa im arabischen Raum wird es gar nicht benutzt - dort zieht man Wasser vor. Generell gilt: Andere Länder, andere Hamsterkäufe. In Italien stehen die Menschen etwa häufig vor leeren Weinregalen. Die Niederländer hamstern wiederum - welch Überraschung - Marihuana.