Als er noch lebte, erzählte der Regisseur der Vor-Vorgänger-Inszenierung des Bayreuther „Parsifal“, Christoph Schlingensief, über seine Arbeit in Bayreuth gern die folgende Geschichte: Die ersten Proben waren desaströs verlaufen, er, Schlingensief, hatte zwar grobe Ideen für seine Deutung, aber was genau auf der Bühne passieren würde, sollte – und musste – auf der Probebühne zusammen mit den Sängern entstehen.
Nur war dafür auch in den damaligen Bayreuther Abläufen keine Zeit. Es reicht nicht, zu wissen, worauf alles grob hinauslaufen könnte, die Sänger und überhaupt das gesamte Team erwarteten klare Ansagen: Die Zeit verging, Festspielleiter Wolfgang Wagner sagte nichts, seine Frau Gudrun zog täglich die Augenbrauen höher.
Schlingensief, rasend vor Verzweiflung, verschanzte sich im Hotelzimmer und hatte dort die rettende Idee: Er besorgte sich ein Video der als legendär und (nur teilweise zurecht) handlungsarm verschrienen „Parsifal“-Inszenierung Wolfgang Wagners, nach Schlingensiefs Schilderung konventioneller als die Uraufführung, und protokollierte die Aktionen der Sänger mit: kniet sich hin, Blick zum Himmel, faltet die Hände, steht wieder auf, Hände zum Himmel, Blick nach unten, zwei Schritte nach vorn, faltet die Hände, fällt auf die Knie, und so weiter. Mit diesen Szenenanweisungen ging Schlingensief am nächsten Tag zur Probe und stellte sie den Sängern als seine eigenen Ideen vor. Die Probe lief wunderbar. Woraufhin Gudrun Wagner ihn anschließend auf dem Gang abfing und hochzufrieden einen Satz äußerte, den Schlingensief danach als geflügeltes Wort übernahm: Na also, geht doch!
Die Geschichte ist so schön, dass sie wahrscheinlich erfunden ist, wobei auf dem Grünen Hügel meistens gerade die am haarsträubendsten ausgedacht klingenden Geschichten wahr sind; überprüfen lässt sie sich nicht mehr. So oder so: Nach der Wiederaufnahme-Premiere von Uwe Laufenbergs Nach-Nachfolger-Inszenierung am Donnerstagabend ist es genau dieser letzte Satz aus Schlingensiefs Geschichte, der einem in den Kopf kommt. Na also, geht doch.
Und nun - eine gute Nachricht
Und dass das so ist, hat nichts mit Wolfgang oder Gudrun Wagner zu tun und auch nichts mit Christoph Schlingensief, sondern allein mit dem Umstand, dass diesmal etwas funktioniert, was in den beiden Jahren zuvor teils noch nicht einmal als gute Absicht erkennbar gewesen war. In der Rückschau lässt es sich genau benennen: Uwe Laufenbergs Inszenierung wirkte vor allem deshalb klein, weil sie so gerne ganz groß sein wollte. Es mangelte nicht an Ideen, im Gegenteil, es gab viel zu viele davon. Anders als bei Wolfgang Wagner und auch der Schlingensief-Deutung ergaben sie kein Ganzes, das einen beim Zuschauen ergreift und übermannt und vielleicht sogar anrührt (und man kann durchaus der Ansicht sein, genau das muss ein „Parsifal“ in Bayreuth schaffen, wozu sonst sollte man sich dieses Mammutwerk sonst antun), aber auch keine kühle analytische Schärfe zeigte. Laufenbergs Inszenierung zerfiel in Aktionen, Gesten und Gänge, die sich, würde man mitschreiben, ähnlich gewollt und überpathetisch lesen wie Schlingensiefs oben zitiertes Stenogramm, nur eben ohne glückliche Wendung.
Und jetzt kommt die gute Nachricht: Das ist jetzt anders. Und man kommt im Lauf des Abends schnell dahinter, woran es liegt - es sind zwei Stellschrauben, an denen hier übers Jahr gedreht wurde.
Raum für die Ideen
Noch immer beginnt Laufenberg seine Geschichte vom Gral in einer Kirche im Nordirak, noch immer wird Amfortas als Ersatz-Jesus bei der Gralsenthüllung zum blutigen Aderlass gezwungen, in der Verwandlungsmusik fliegen wir einmal durch den Weltraum, Klingsor hantiert mit einem Dildo-Kruzifix herum, und Kundry säubert im dritten Aufzug den Kühlschrank. Aber ganz offensichtlich hat sich die Regie auf der Probebühne von etlichen Aktionen verabschiedet, so dass die verbliebenen Ideen jetzt Raum haben, zu wirken.
Und das tun sie dann auch. Etwa wenn der nackte Gralskönig Amfortas eine Ewigkeit lang mutterseelenallein in der Altar-Badewanne kauert. Oder wenn Amfortas nach dem Aderlass blutend auf dem Altar liegt, in derselben Pose wie die Jesus-Figur, die die Gralsritter währenddessen vom Kreuz geholt haben. Wenn Parsifal, im Blumenmädchen-Hamam, beiläufig untertaucht und auf Kundrys „Parsifal“-Ruf (er weiß nicht, dass sie weiß, dass er so heißt) überrascht bedeutungsvoll auftaucht. Oder wenn er im dritten Aufzug das aus den Trümmern des heiligen Speers zusammengebundene Kreuz - über Details lässt sich durchaus immer noch streiten - demonstrativ wieder auseinandernimmt, und damit zeigt: Das hilft auch nicht weiter. Und wenn er danach noch lange sinnend in den Sarg schaut, in den der Herrenchor vorher die Symbole aller Religionen beerdigt hat, wirkt es bedeutungsvoll und nicht nur eingefügt, weil’s der Regisseur und der Ausstatter so beschlossen haben und man auf dem Weg in die Kantine eh am Sarg vorbeikommt.
Die Musik treibt das Drama an
Wie gesagt: Man kann immer noch finden, dass das Konzept nicht schlüssig ist und dass es dem Abend nicht hilft, jede einzelne Frage, die die Partitur stellt, mit der denkbar einfachsten Antwort zu versehen (Amfortas’ Wunde schließt sich nicht, weil sie die Gralsritter immer wieder aufschneiden). Aber jetzt, im dritten Jahr, ergibt der Abend ein Bild. Eben dadurch, dass sich Bilder ergeben, und man hört nicht mehr hinter der Musik das Regiebuch rascheln.
Das ist die eine Ursache, die sichtbare. Die andere kann man nicht sehen, aber hören und fühlen. Es ist die Musik. Und auch wenn es unnötig wirken mag, darauf hinzuweisen, dass bei einer Opernaufführung (pardon, einem Musikdrama, in diesem Fall bekanntlich sogar: einem Bühnenweihfestspiel) die Musik entscheidend ist, aber heute ist sie das mehr als an anderen Abenden. Im Graben steht erstmals Semyon Bychkov. Und der macht etwas entscheidend anders als sein Vorgänger Hartmut Haenchen: Er betont, wenn man so will, das Wort Musikdrama auf „Drama“. Die Musik treibt nach vorn, ganz ohne getrieben zu sein, aber mit klarer Richtung: nach vorn, der Erlösung entgegen. Bei Hartmut Haenchen ruhte die Musik in sich selbst, die Harmonien waren sorgsam übereinandergeschichtet und mit viel Vorarbeit einzeln neu ausgemessen, die Musiker und Haenchen selbst schienen im Klang zu schwelgen.
Bychkov erzählt eine Geschichte - und es ist interessanterweise nicht so, dass sich die Dirigate in ihrer Dauer so sehr unterscheiden würden. Aber die Töne haben eine andere Temperatur, man könnte es vielleicht so sagen: Der eine, Haenchen, wollte, dass es nicht aufhört. Der andere, Bychkov, will wissen, wie es ausgeht. Und dieser Umstand hilft der Handlung auf der Bühne mehr als jede konzeptionelle Ausarbeitung (trotzdem nett, dass im Karfreitagszauber jetzt neben den barbusigen Frauen auch ein paar nackte männliche Statisten unter der Bühnendusche mittanzen dürfen, gerade bei den Temperaturen, die zurzeit im Festspielhaus herrschen).
Es bleibt das hohe Niveau der Sänger
Eines hat sich zum Glück nicht geändert: das Niveau der Sänger. Für keine Rolle wäre eine bessere Besetzung auch nur denkbar, Günther Groissböck debütiert in Bayreuth als beeindruckender Gurnemanz, Thomas Mayer beeindruckt gleichermaßen als Amfortas, Andreas Schager ist ein bewährt kraftstrotzender Parsifal, Elena Pankratova brilliert als Kundry, und Derek Welton ist sicher einer der besten Klingsor-Besetzungen, die derzeit zu finden sind.
Am Schluss des ersten Aufzugs blickt Parsifal mehrere Augenblicke lang auf den blutverschmierten Altar, im staunenden Blick die Frage: Was ist denn hier passiert? Gurnemanz schaut ihm nach mit der gleichen Frage im Blick, beschlichen mit der leisen Ahnung, dass der Kerl nicht doch nur ein dahergelaufener Einfaltspinsel sein könnte, der nicht weiß, was er tut.
Könnte sein, es ist doch noch nicht alles zu spät. Ob es stimmt, wird sich zeigen. Es gibt noch Hoffnung, ganz unverhofft.
INFO: Weitere Vorstellungen am 1., 8., 14., 19. und 25. August, jeweils um 16 Uhr.