Pflege: Aggressive Alte

Von Ulrike Sommerer

Heute hat Herr Meier oder Müller oder Schmidt einen schlechten Tag. Miesepetrig sitzt er in seinem Rollstuhl, motzt jeden an, der ihm zu nahe kommt. Was soll das jetzt auch schon wieder, Frühstück? Heute ist doch Weihnachten. Als die Pflegerin seinen Rollstuhl etwas näher zum Tisch schiebt, beschimpft er sie. Herr Meier oder Müller oder Schmidt ist eine erfundene Person. Aber eine, die zigfach in Pflegeheimen sitzt und aggressiv gegen das Pflegepersonal wird.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Die Arbeit mit der Vergangenheit ist im Umgang mit Demenzkranken wichtig, erklären Heidrun Neuber und Natalya Kamyshanskaya (rechts) vom Speichersdorfer Luise-Elsäßer Seniorenheim. Dazu gehört beispielsweise auch, alte Fotos aus dem Leben der Patienten anzusehen. Bietet man den Patienten Sicherheit und ein vertrautes Umfeld, würde man schon viel Aggressionspotenzial im Keim ersticken. Foto: Ulrike Sommerer Foto: red

In Österreich gab es den extremen Fall, dass ein alter Mann eine Pistole auf seinen Pfleger richtete. So etwas sei äußerst selten, Aggressionen alter Menschen seien in der Regel nicht körperlicher Art, sagt Gerhard Wolf, Leiter des Speichersdorfer Luise-Elsäßer Seniorenheims. Wenn sich alte Menschen aggressiv verhalten, geschehe das meist verbal. Eine Erfahrung, die auch Albrecht Diller, Leiter des Seniorenwohnparks Rosengarten in Neuenmarkt, teilt. In der Fachsprache heißt dieses Verhalten "herausfordernd". Erst einmal, sagt er, habe er in seiner beruflichen Laufbahn den Fall gehabt, dass ein Bewohner eines Seniorenheims die Hand gegen einen Pfleger erhoben habe.

Nach der Werbung weiterlesen

Warum Menschen böse werden

Natalya Kamyshanskaya arbeitet im Speichersdorfer Luise-Elsäßer Seniorenheim als gerontopsychatrische Fachkraft. Sie sagt: "Niemand ist grundlos aggressiv oder böse oder traurig." Vielleicht wurde der Bewohner nicht richtig verstanden, vielleicht habe er Schmerzen, die er nicht anders ausdrücken könne, vielleicht finde er sich nicht zurecht und reagiere deshalb böse.

Dabei sei Aggressivität kein Symptom von Demenz - "Menschen sind nicht per se grantig oder gefährlich, nur weil sie dement sind", sagt  Dr. Michael Schüler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus in Bayreuth. Dort werden häufig Menschen eingewiesen, weil sie Zuhause oder in einem Pflegeheim als aggressiv aufgefallen wären, sagt Schüler. Wie sich jemand verhält - auch im Alter - sei Sache des Charakters und des Temperaments. Es könne allenfalls sein, dass ein Mensch etwas schroffer sei, weil er Impulse nicht mehr in dem Maß kontrollieren könne, wie er es als gesunder Mensch konnte. Albrecht Diller formuliert es so: Bei dementen Menschen fallen Masken. Wer sich früher noch kontrollieren konnte und freundlich zu Familie, Kunden und Kollegen gewesen sei, könne das im Alter oder unter dem Einfluss der Krankheit oft nicht mehr und zeige sein wahres Temperament. Wenn ein Mensch im Verlauf seiner Demenz immer wieder bemerke, dass er Fehler macht und seine Umwelt nicht mehr verstehe, werde er darauf reagieren, erläutert Michael Schüler. "Ein eher introvertierter Mensch wird die Schuld an den Fehlern eher bei sich selbst suchen ('was ist nur aus mir geworden?') und depressiv werden. Ein temperamentvollerer Mensch wird die Schuld eher nach außen tragen und bei anderen suchen ('ihr versteckt mir ständig meine Sachen, so dass ich sie nicht mehr finden kann!')."

Wann Medikamente gebraucht werden

Um damit umgehen zu können, wird das Pflegepersonal geschult. Die Mitarbeiter lernen, entsprechende Situationen zu entschärfen, sagt Michael Schüler vom Bezirkskrankenhaus. "Natürlich gibt es Beruhigungsmittel und die werden auch eingesetzt, schon damit die überwiegend betagten Menschen in ihrer Aufregung nicht noch durch Blutdruckkrisen oder Herzanfälle zusätzlich gefährdet werden." Grundsätzlich sollen aggressive Patienten oder Bewohner aber durch das Verhalten des Pflegepersonals ruhiger werden.

Angehörige einbinden

Sollten Bewohner Vorgeschichten, die zu Aggression führen könnten, oder ein Trauma haben, sei es wichtig, dass die Angehörigen dies den Pflegern sagen. Denn nur dann könne man entsprechend damit umgehen, sagt Detlef Wolff, Leiter des Seniorenhauses Bad Berneck. Beispielsweise nachts ein Licht brennen lassen, um Angst zu verringern, oder den Menschen nicht von der Seite aus ansprechen.  Biografie-Arbeit nennt man das und das wurde in den vergangenen Jahren zunehmend wichtiger. Es wird gefragt, was die Bewohner gearbeitet haben, welche Vorlieben und Hobbys sie hatten, ihre schlechten Erfahrungen werden abgefragt, aber auch ihre glücklichste Zeit im Leben.

Warum der Elefant im Zimmer bleibt

Was auch noch wichtig ist: Die Menschen erfahren Bestätigung. Wähnt sich Herr Meier oder Müller oder Schmidt in der Weihnachtszeit, lasse man ihn in diesem Glauben. Wähnt er einen Elefanten im Zimmer, gehe man darauf ein und versichere, dass dieser Elefant gar nicht gefährlich sei. In solchen Fällen die Patienten zu korrigieren würde diese kränken, sie mit ihren Defiziten konfrontieren, sagt Michael Schüler. Und genau das möchte man ja nicht. Er fürchtet aber, dass dies in Zeiten des Pflegenotstands häufiger vorkommen werde. Denn Zeitdruck führe zu Ungeduld und die könne der Kranke nicht mehr erkennen und verkraften.

Leben in der Vergangenheit

Demente Menschen, erklärt Diller, wandern zurück in ihrem Leben, Richtung Jugend und Kindheit. Erlernte Fähigkeiten gehen verloren, die Emotionen bleiben. Die Vergangenheit kann sich  auch negativ bemerkbar machen. Wenn das Silvesterfeuerwerk einen Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs heraufbeschwöre. Oder Russlanddeutsche plötzlich nicht mehr Deutsch sprechen - weil sie sich nicht mehr daran erinnern.

Die positive Seite des Vergessens

Und wenn doch einmal jemand aggressiv reagiere? Oft hilft Ablenken und ein zweiter Versuch nach kurzer Pause, das zunächst abgewehrte Ziel dann doch zu erreichen, sagt Michael Schüler vom Bezirkskrankenhaus. "Eben weil auch die Ursache des Ärgernisses oft rasch wieder vergessen wird - leider wie so vieles andere eben auch."