Die Vorschriften müssen nun überarbeitet werden. Für die Übergangsphase regelt das Verfassungsgericht die Praxis selbst. Minderungen um 60 oder 100 Prozent dürfen demnach ab sofort nicht mehr verhängt werden. 30-Prozent-Sanktionen bleiben zwar möglich. Die Jobcenter können in Zukunft aber im Einzelfall darauf verzichten. Das ist für die Richter zentral, damit besondere Härten berücksichtigt werden können. Außerdem darf die Kürzung nicht volle drei Monate aufrechterhalten werden, wenn der Empfänger sich einsichtig zeigt.
Laut Harbarth war für das Gericht entscheidend, dass die Wirkung der Sanktionen fast 15 Jahre nach Einführung von Hartz IV immer noch nicht umfassend untersucht ist. Es gebe viele offene Fragen. Sich auf plausible Annahmen zu stützen, genüge nicht mehr. Unter den acht Richtern des Ersten Senats kam die Entscheidung einstimmig zustande.
In dem Verfahren ging es nicht um kleinere Verfehlungen wie einen verpassten Termin beim Amt, die mit einer zehnprozentigen Kürzung geahndet werden. Überprüft wurden auch nicht die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren.
Heil sagte aber, er gehe von Auswirkungen auch bei den Unter-25-Jährigen aus. Das Urteil gebe zudem den klaren Auftrag, den Sozialstaat weiterzuentwickeln. Die Koalition werde in Ruhe besprechen, "was das an gesetzgeberischer Weiterentwicklung bedeutet". In der ARD sagte Heil: "Mein Ziel ist, dass wir dieses System grundlegend verändern." Die Interims-SPD-Chefin Malu Dreyer sagte der "Rheinischen Post", das Sozialstaatskonzept der SPD sei eine gute Grundlage für die weiteren Diskussionen mit der Union. Mit ihrem Konzept will die SPD Hartz IV stark entschärfen.
Der CDU-Arbeitsmarktexperte Peter Weiß hingegen betonte: "Eine sogenannte Totalrevision des Arbeitslosengeldes II ist nach dem heutigen Urteil nicht angezeigt."
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, sagte, nun müsse geprüft werden, was mit noch nicht bestandskräftigen Bescheiden über Minderungen von mehr als 30 Prozent passieren solle. Stärkere Minderungen seien zwar nicht verfassungskonform - "aber das Thema der Mitwirkungspflichten ist verfassungskonform und das Prinzip des "Förderns und Forderns" auch".
Tatsächlich stellen die Richter Hartz IV nicht grundsätzlich infrage: Arbeitslosen dürfen auch weiter geringwertige Tätigkeiten zugemutet werden, die nicht ihrem eigentlichen Berufswunsch entsprechen.
Linke-Parteichefin Katja Kipping sagte, der Kampf um Mehrheiten für Sanktionsfreiheit und die Überwindung von Hartz IV gehe weiter. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach verlangte: "Jetzt sollten die Sanktionsregelungen insgesamt auf den Prüfstand." Auch Verdi und die IG Metall forderten weitgehende Reformen.
Auf mehr Förderung und Qualifizierung pochte der Sozialverband VdK Deutschland. Der Deutsche Landkreistag plädierte zur Vermeidung von Bürokratie für eine Streichung der schärferen Regelungen für Unter-25-Jährige.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner begrüßte es, dass das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit von Sanktionen nicht ganz aufgehoben habe. "Der Grundsatz "Fördern und Fordern" muss auch weiter gelten", sagte er in Berlin. Der AfD-Abgeordnete René Springer kritisierte, das Urteil setze "unverantwortliche Anreize für die weitere Armutsmigration nach Deutschland".
Das Urteil geht zurück auf eine Vorlage des Sozialgerichts im thüringischen Gotha. Die Richter dort hatten eines ihrer Verfahren ausgesetzt, um die Vorschriften in Karlsruhe unter die Lupe nehmen zu lassen. In dem Fall musste ein Arbeitsloser mit 234,60 Euro weniger im Monat auskommen, weil er beim Jobcenter Erfurt ein Stellenangebot abgelehnt und Probearbeit verweigert hatte. Ob er einen Teil des Geldes nachträglich noch ausbezahlt bekommt, müssen nun die Sozialrichter in Gotha entscheiden.
Der Hartz-IV-Satz für einen alleinstehenden Erwachsenen liegt derzeit bei 424 Euro im Monat. Zum 1. Januar steigt er auf 432 Euro.