Interview mit Professor Volker Ulrich "Die Regierung sollte die Steuerlast verringern"

von Roland Töpfer
Deutschland sollte Bürger und Unternehmen steuerlich entlasten - diese Forderung erhebt der Bayreuther Ökonom Professor Dr. Volker Ulrich. Fotos: Uni Bayreuth, compuinfoto/Adobe Stock Foto: Markus Roider

BAYREUTH. Der Finanzwissenschaftler Professor Volker Ulrich ist mit der deutschen Steuerpolitik nicht zufrieden. Im Interview spricht er auch über Schulden, Zinsen und Investitionen. Volker Ulrich ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. Der Finanzwissenschaftler zählt die Budgetstruktur öffentlicher Haushalte zu seinen Forschungsschwerpunkten.

 
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Herr Professor Ulrich, der Haushaltsentwurf 2020 steht. Wie beurteilen Sie ihn?

Vor 70 Jahren hat der sozialdemokratische Finanzpolitiker Kurt Heinig den Bundeshaushalt als „Schicksalsbuch der Nation“ bezeichnet, das ist auch heute noch eine treffende Bezeichnung. 360 Milliarden Euro stehen in 2020 zur Verfügung – ein Plus von 1,7 Prozent gegenüber 2019. Nach neun Jahren des Aufschwungs trübt sich die Konjunktur nun ein. Ungünstigere außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen, temporäre produktionsseitige Probleme und Kapazitätsengpässe dürften das Wachstum dämpfen.

Wo sehen Sie Streitthemen?

Zum Streitthema dürften insbesondere die Sozialausgaben werden. Lag ihr Anteil zuletzt bei etwa 50 Prozent, werden es nach der neuesten Finanzplanung bis 2023 nahezu 53 Prozent sein. Mehr als die Hälfte davon entfällt auf den Steuerzuschuss für die gesetzliche Rentenversicherung. Dazu kommen Zuschüsse zur Krankenversicherung und familienpolitische Leistungen. Die Investitionen hingegen steigen nur um weniger als eine Milliarde Euro, belaufen sich damit auf nur zehn Prozent des Haushalts.

Das ist zu wenig?

Ja, das ist zu wenig und nicht zukunftsorientiert. Die staatliche Bruttoinvestitionsquote ist in Deutschland seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gesunken und liegt deutlich unter dem OECD-Schnitt von drei Prozent. Um diesen Durchschnitt zu erreichen, müsste der deutsche Staat seine Investitionstätigkeit um mindestens 40 Prozent erhöhen.

Was sind die Folgen?

Die Konsequenzen dieser Entwicklung zeigen sich sehr deutlich bei der Infrastruktur. Die gesamten staatlich getätigten Investitionen können höchstens noch Instandhaltungen finanzieren, was darüber hinausgeht, pendelt um den Wert null.

Viele Jahre Wachstum, aber keine Steuerentlastung für die Beschäftigten. Sehr enttäuschend?

Letztlich ja. Mit ihrer Politik hat die Bundesregierung die außerordentlich günstigen Rahmenbedingungen der letzten neun Jahre nicht für eine nachhaltige und zukunftsweisende Haushaltspolitik genutzt. Eine Rückzahlung von Schulden oder eine gezielte Entlastung von Arbeitnehmern und Unternehmen blieb auf der Strecke. Ein ausgewogener Mix aus Schuldentilgung, Steuerentlastung und vor allem wachstumsfördernden Investitionen wäre aus meiner Sicht die bessere Alternative gewesen.

Der Soli muss weg, sagt die Union. Richtig?

Bei der Abschaffung des Solis geht es auch um politische Glaubwürdigkeit. In einem Gutachten hat das Institut der deutschen Wirtschaft berechnet, welche Einkommensgruppen die Hauptlast des Solis tragen: Demnach haben erwartungsgemäß die oberen zehn Prozent der Steuerzahler die Hauptlast der 331 Milliarden Euro Soli-Steuereinnahmen seit 1995 getragen. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 entfällt der Grund für die Erhebung des Solis, nicht nur für 90 Prozent der Bürger, sondern auch für die zehn Prozent, die bislang die Finanzierung geleistet haben.

Auch die Wirtschaft ruft nach niedrigeren Steuersätzen. Ist Deutschland mit seinen Steuern global konkurrenzfähig?

Die USA, China und Großbritannien haben die Unternehmenssteuern gesenkt beziehungsweise wollen sie 2019 senken. In den USA sank der Steuersatz für Unternehmen von 37 auf 23 Prozent. China wird 2019 entsprechend antworten. Großbritannien dürfte auf den Brexit ebenfalls mit Steuersenkungen reagieren. Der Steuersatz auf einbehaltene Gewinne liegt in Deutschland mit rund 30 Prozent deutlich über dem Niveau dieser Länder.

Und in anderen Ländern?

Unter den G 7-Staaten hat derzeit nur Frankreich mit 33 Prozent einen höheren Satz. Um Steueraufkommensverluste durch Gewinnverlagerung ins Ausland einzudämmen und Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland zu halten, sollte die Bundesregierung die Steuerbelastung ebenfalls in Richtung 25 Prozent verringern.

Jetzt kühlt die Wirtschaft ab. Die Chance auf Steuersenkungen wurde verpasst?

Die Steuereinnahmen steigen ja nicht nur absolut, sondern auch proportional. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt, die sogenannte Steuerquote, ist mit mehr als 23 Prozent so hoch wie seit den 1980er-Jahren nicht mehr. Man könnte also die Bürger entlasten, ohne den sozialen Zusammenhalt zu gefährden.

Es gibt also Spielraum?

Nach der Steuerschätzung liegt der finanzielle Spielraum für die laufende Legislaturperiode bei rund 50 Milliarden Euro und damit deutlich höher als von der Regierung angenommen.

Der Staat profitiert von Nullzinsen, die Bürger bangen um ihre Vorsorge. Wie lange geht das gut?

Über die sozialen Folgen der Niedrigzinspolitik wird viel diskutiert. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat schon vor drei Jahren gewarnt, dass die Geldpolitik der US-Notenbank Fed die soziale Kluft in den USA weiter vergrößern könnte. In Deutschland konzentriert sich die öffentliche Debatte bisher auf eine Diskussion über die „Enteignung“ der Sparer, die mit der Niedrigzinspolitik der EZB einhergeht.

Stimmt das nicht?

Eine aktuelle Studie vom Institut der deutschen Wirtschaft ergibt ein differenzierteres Bild. Die Untersuchung zeigt, dass ausgerechnet das Zehntel der deutschen Bevölkerung, das in der Vermögensskala unten steht, von der Niedrigzinspolitik profitiert. Der Grund ist, dass diese Bevölkerungsgruppe relativ hoch verschuldet ist und daher für sie die Vorteile der gesunkenen Schuldzinsen überwiegen. Für die anderen neun Zehntel der Bevölkerung ist das niedrige Zinsniveau hingegen nachteilig. Auch jüngere Haushalte profitieren von einem geringeren Schuldendienst, sie haben oft noch hohe Hypothekenkredite abzutragen.

Und die Älteren?

Ältere Haushalte haben ihre Häuser weitgehend abbezahlt und bekommen weniger Habenzinsen auf ihre Altersvorsorgeersparnisse. Hier trifft die Kritik an der „Enteignung“ der Sparer am ehesten zu, auch wenn es letztlich ökonomisch gesehen keinen Anspruch auf ein bestimmtes Zinsniveau gibt.

Die Zinswende in den USA gerät ins Stocken. Weitere Zinserhöhungen wurden auf Eis gelegt. War’s das schon?

Es stimmt, die internationalen Finanzmärkte spekulieren wieder auf fallende Zinsen. In Deutschland liegt das Zinsniveau für Dreimonatsgelder auf einem höheren Niveau als die Zinsen für Staatspapiere mit einer Laufzeit von bis zu vier Jahren.

Ein gefährliches Vorzeichen?

Dieser Befund gilt für viele als ein möglicher Vorbote einer Rezession, also eines Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Allerdings ist hier viel Unsicherheit im Spiel, wir sind in einer labilen Weltlage und das Wachstum könnte durchaus noch einmal anspringen, insbesondere in den USA.

Die überschuldete Welt kann sich höhere Zinsen gar nicht mehr leisten?

Was heißt hier leisten? Zinsen besitzen ja volkswirtschaftlich zunächst einmal eine wichtige Funktion für eine effiziente Ressourcenallokation. Langfristig entspricht der Zins gemäß der Theorie dem langfristigen Wachstum der Wirtschaft und noch weiteren Faktoren, wie zum Beispiel der Demografie oder der Einkommensverteilung.

Was bedeutet das konkret?

Hier gibt es eine interessante aktuelle Diskussion unter Ökonomen. Einige Ökonomen behaupten, die niedrigen Zinsen lägen am niedrigen Wirtschaftswachstum, andere sehen die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken als Hauptursache. Kürzlich hat der frühere US-Finanzminister Larry Summers eine Analyse veröffentlicht. Diese kommt zu dem Schluss, dass der Zins über die vergangenen Jahrzehnte aufgrund abnehmenden Wachstums und einer durch die Alterung der Bevölkerung und Ungleichheit in der Einkommensverteilung entstandenen Ersparnisschwemme um drei Prozentpunkte gefallen sei. Dabei habe der Anstieg der Staatsverschuldung der Zinssenkung sogar entgegengewirkt. Dies legt nahe, dass es noch einen größeren Spielraum für weitere Staatsverschuldung gibt.

Es gibt aber auch andere Stimmen.

Die gegenteilige Position vertritt eine Gruppe von Ökonomen, die zeigen, dass die negativen realen Marktzinsen der letzten Jahre nicht auf realwirtschaftliche Umstände zurückgeführt werden können, sondern von den Zentralbanken erzwungen wurden. Da die Modellannahmen der Berechnungen von Herrn Summers sehr eng sind, spricht viel dafür, dass im Wesentlichen die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank die niedrigen Zinsen erzwungen hat und nicht realwirtschaftliche Umstände.

Wir werden auf Dauer extrem niedrige Zinsen haben?

Das ist gegenwärtig nur schwer abzuschätzen. Da die meisten Regierungen den Sparkurs über Bord geworfen und den Schuldenschnitt zum politischen Tabu erklärt haben, bleiben nur drei Wege, Staatsschulden zu verringern: mehr Wachstum, höhere Inflation und niedrigere Zinsen. Von daher ist zu erwarten, dass die Niedrigzinspolitik uns noch eine Weile erhalten bleibt. Zunächst müsste eine Einsicht in die Notwendigkeit struktureller Reformen in einzelnen Ländern wachsen, die gegenwärtig aber nicht zu erkennen ist.