Holocaust-Forscher Erinnern: „Was wir sind und wie wir uns die Zukunft vorstellen“

Die Menschen erinnern sich weltweit an den Holocaust. Wie sich die Erinnerungskultur unterscheidet und warum sie nicht zum Ritual erstarren sollte, erklärt der Soziologe Alejandro Baer im Gespräch mit unserer Zeitung.

 
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Christoph Bochinger (links), Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth, zusammen mit Alejandro Baer, Professor für Soziologie an der Universität von Minnesota. Foto: /Ute Eschenbacher

Herr Prof. Baer, warum befassen Sie sich in Ihrer Forschung mit dem Erinnern?

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Alejandro Baer: Erinnern ist eine soziologische Schlüsselfrage. Welche Ereignisse aus der Vergangenheit wir erinnern und wie wir das tun, prägt unser Selbstverständnis als Gesellschaft, unsere gemeinsamen Werte, was wir sind und welche Zukunft wir uns vorstellen. Gerade die Erinnerung an Gewalterfahrungen kann neue Zyklen der Gewalt hervorrufen, aber auch zu deren Überwindung führen.

Welche Formen des Erinnerns an den Holocaust unterscheiden Sie?

Wie der Soziologe Maurice Halbwachs schrieb, gibt es so viele Formen des Erinnerns wie soziale Gruppen und so viel soziale Gruppen wie Formen des Erinnerns. Das gilt auch für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Zum Beispiel erinnern deutsche Familien, deren Vorfahren in die Taten verwickelt waren, die Ereignisse anders als die Opfer oder deren Nachfahren. Es gibt aber auch universale, humanistische Lehren aus den Ereignissen. Solche Formen des Erinnerns können Länder und Gruppen übergreifen.

Wann ist ein historischer Vergleich mit dem Holocaust angemessen und wann nicht? Sie nannten selbst den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern als Beispiel.

Vergleichen ist in der Wissenschaft eine selbstverständliche Methode, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Aber es gibt auch eine Politik des Vergleichs. Zum einen hat es der Vergleich mit dem Holocaust anderen Opfergruppen ermöglicht, die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Verfolgungsgeschichte zu lenken. Zum anderen besteht immer auch die Gefahr, die Singularität oder Eigenart des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden in der Erinnerungskultur unsichtbar zu machen.

Im Ukraine-Krieg erleben wir, dass sich beide Seiten auf den Zweiten Weltkrieg beziehen, aber völlig unterschiedlich. Putin will die Ukraine von Neonazis befreien, die Ukraine sieht in Putins Krieg einen imperialistischen, faschistischen Angriff. Wie lässt sich das erklären?

In der Sowjetunion hat der Sieg über Nazi-Deutschland immer eine wichtige Rolle im historischen Bewusstsein gespielt. Es überrascht nicht, dass in der gegenwärtigen Situation sowohl von russischer wie von ukrainischer Seite der jeweilige Gegner mit dem Hitler-Regime verglichen wird. Dabei ist jedoch nur die eine Seite des Vergleichs plausibel. Putins Angriffskrieg hat Gemeinsamkeiten mit der Annexion des Sudetenlands oder dem deutschen Überfall auf Polen, während der Vorwurf, dass die Ukraine von Nazis beherrscht würde, nur als Instrument der Propaganda bezeichnet werden kann.

Sie sagten auch den bezeichnende Satz: „Gedenken kann Handeln ersetzen.“ Was meinen Sie damit genau?

Im Deutschen spricht man von „Denkmal“ („denk mal!“). Das beschreibt sehr zutreffend, dass Gedenken nicht ein versteinertes Ritual sein darf. Es muss immer wieder neue Anstöße vermitteln und zur Wachsamkeit gegenüber gegenwärtigen Bedrohungen verhelfen. Wenn es nicht in konkretem Handeln umgesetzt wird, bleibt das Gedenken in einer selbstgefälligen Blase stecken. Natürlich ist das Umsetzen keine leichte Aufgabe, zumal es immer unterschiedliche Deutungen geben wird.

Hat Deutschland aus der NS-Vergangenheit gelernt und wie vermittelt man dies nachfolgenden Generationen?

Wenn ich das gegenwärtige Deutschland erlebe, bin ich sicher, dass die verschiedenen Generationen wichtige Lehren aus der NS-Vergangenheit gezogen haben. Aber Lernen ist ein ständiger Prozess. Angesichts neuer Herausforderungen sind immer wieder neue Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Vielleicht wird sich dies in der jetzigen Ukraine-Krise durch ein besonders engagiertes Handeln von deutscher Seite zeigen. Noch ist es zu früh, das zu beurteilen.

Zur Person

Prof. Alejandro Baer lehrt Soziologie an der staatlichen Universität Minnesota in den USA. Er leitet zugleich das interdisziplinäre Zentrum für Holocaust and Genozid Forschung. Baer stammt aus einer jüdischen Familie mit deutschen Wurzeln. Alejandro Baer studierte Soziologie und Sozialanthropologie an der Complutense Universität in Madrid und promovierte dort 2003 mit einer Arbeit über das öffentliche Holocaust-Gedenken. Baer habilitierte sich im Jahr 2013 für das Fach Soziologie. Er gehört zu der Generation von Forschern, die Vergleiche zwischen dem Holocaust an den Juden mit anderen Formen von Genozid zu ziehen. Die Fachgruppe Religionswissenschaft holte ihn für di 16. William James-Gastprofessur für Religionsforschung wieder für eine Woche nach Bayreuth mit einem Beitrag zu „1700 Jahre Judentum in Deutschland“.