Gestrandet in Kabul Zwischen Mut und Verzweiflung

Aus einem Auto heraus hat Anwar, der bis zu seiner Abschiebung in Kulmbach lebte, eine Straßenszene mit Taliban-Kämpfern in Kabul fotografiert und seinem Bruder Majid geschickt. Foto: red

Viele in der Region lebende Menschen aus Afghanistan fürchten um das Leben ihrer Familienangehörigen, Verwandten und Freunden, seit die Taliban die Macht übernommen haben. Langsam schwindet die Hoffnung, von hier aus Hilfe organisieren zu können.

 
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Kulmbach/Heinersreuth - Das Bild ist schwarz, der Ton scheint ausgeschaltet. Plötzlich sind Maschinengewehrsalven zu hören. Sie scheinen ganz nah abgefeuert zu werden. Das Video bricht ab. Majid, dessen Nachname aus Sorge um seinen Bruder nicht genannt werden soll, schaltet sein Handy aus. Anwar, sein jüngerer Bruder, hat ihm das Video gesandt, kurz nachdem die Taliban die Herrschaft über Kabul übernommen hatten. Anwar sitzt seit 2019 in der afghanischen Hauptstadt fest. Ohne Job, ohne Einkommen. Zu der verzweifelten Situation kommt jetzt noch die panische Angst vor den Taliban.

Von Taliban-Kämpfern geschlagen

Anwar traue sich nicht mehr auf die Straße, sagt sein in Kulmbach lebender Bruder Majid, seit er von Talibankämpfern kontrolliert wurde. Sie hätten ihn geschlagen und bedroht, weil er Kopfhörer getragen hatte. „Sie schnitten die Kabel durch und drohten ihm, dass er das nächste Mal die Kopfhörer vor ihren Augen essen müsse“, sagt Majid. Er und seine Familie versuchen mit der Unterstützung von Tina Karimi-Krause vom Verein Bunt statt Braun, einen Weg zu finden, auf dem Anwar das Land verlassen kann. Er habe ihm alle Papiere und Dokumente geschickt, sagt sein Bruder. Damit sei Anwar am frühen Morgen zum Flughafen von Kabul gefahren. Nach stundenlanger Wartezeit habe er bis zum Tor vordringen können, doch ein amerikanischer Soldat habe ihn abgewiesen. „Er hat sich die Papiere angeguckt und sie mir dann vor die Füße geworfen, weil er sie nicht lesen konnte“, hat Anwar seinem Bruder Majid berichtet. Kurze Zeit, nachdem er den Flughafen verlassen hatte, zündete ein Selbstmordattentäter eine Bombe.

Gedrückte Stimmung

Es herrsche eine sehr gedrückte Stimmung in der afghanischen Community, sagt Gigi Raithel- Masoudi. Die Menschen schwanken zwischen Mut und Verzweiflung. Sie können nicht verstehen, dass die Taliban so schnell die Macht über- und Kabul einnehmen konnten, sagt sie. Viele seien vor den Taliban oder wie ihr Mann Fatah vor den Mudschahedin geflohen. jeder trage ein Trauma in sich, das wieder aufbreche. Hinzu komme die Sorge um Verwandte und Freunde, die als Ortskräfte gearbeitet hätten und einfach im Stich gelassen worden seien. Sie wissen, dass sie auf Listen stehen, die die Taliban führen und Name für Name abarbeiten, sagt Raithel-Masoudi. Ihr Schwager, der für die US-Streitkräfte gedolmetscht habe, sitze mit seiner Familie in Herat fest. „Er kommt nicht raus, er ist im Haus gefangen. Und das schlimmste ist, dass wir ihm nicht helfen können.“ Alle Kanäle, auf denen Geld nach Afghanistan transferiert werden konnte, seien gekappt. Selbst die Hoffnung, Visa besorgen zu können, sei verflogen. Die Taliban kontrollieren die Grenzen nach Pakistan, es kommt niemand mehr durch, sagt Raithel-Masoudi.

Die Angst ist riesengroß

Valentina Dumitru, Vorsitzende des Integrationsbeirates der Stadt Bayreuth, weiß aus zahlreichen Gesprächen mit afghanischen Mitbürgern von der großen Enttäuschung, die unter ihnen herrscht. Familienmitglieder, Verwandte, Freunde in Afghanistan fühlten sich im Stich gelassen. Obwohl sie auf Listen standen, habe man ihnen keine Möglichkeit zur Ausreise geboten. Sie wisse von einem Mann aus Herat, der mit seiner Familie in einem fensterlosen Zimmer in Kabul lebe und sich nicht traue, sein Handy zu benutzen, weil er Angst habe, die Taliban könnten ihn ausfindig machen. Er wisse, dass er als Verräter gelte, und ihm und seiner Familie der Tod drohe. „Es werden ganze Familien ausgelöscht. Das wissen alle“, sagt Dumitru. Die Angst sei bei allen, hier wie in Afghanistan, riesengroß. Dumitru: „Es ist zum verzweifeln.“

Lichtschein am Horizont

Für Anwar und seine Familie gab es einen schmalen Lichtstreifen am Horizont. Der Junge, der wenige Monate nach seinem 18. Geburtstag nach Kabul abgeschoben worden war, hätte aller Voraussicht nach in wenigen Monaten zurückkehren können. Seine Brüder hatten die Abschiebekosten in Höhe von 6000 Euro an den Staat bezahlt. Der Ausbildungsvertrag, den Anwar schon vor seiner Abschiebung unterschrieben hatte, wurde anerkannt. „Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen“, sagt Karimi-Krause. Hätte er bei seinem Vater in Thüringen gelebt, wäre ihm die Abschiebung erspart geblieben. „Das Vorgehen der bayerischen Behörden ist eine Farce“, sagt sie. Die wenigsten der abgeschobenen Afghanen seien Straftäter gewesen. Anfang August wurde Anwars Familie von der Ausländerbehörde darüber informiert, dass er wieder einreisen dürfe. Er müsse jedoch eine Wartezeit von bis zu zwölf Monaten einkalkulieren, bis er bei der deutschen Botschaft in Islamabad einen Termin für einen Visumantrag erhalten könne. Ein Lichtschein am Horizont. Die Machtübernahme durch die Taliban hat alle seine Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Kulmbach zerstört.

„Wir kämpfen weiter“

Majid, seine Familie und Tina Karimi-Krause geben die Hoffnung nicht auf. Sie werden weiterhin jeden Monat Geld nach Kabul senden, wenn es wieder möglich ist. Vielleicht gelingt es auch, über einen persönlichen Kontakt nach Berlin Anwar auf die Liste derer setzen zu lassen, deren Ausreise Bundesaußenminister Heiko Maas erreichen will. „Wir geben nicht auf“, betont Majid. „Auch wenn die Zukunft Afghanistans zerstört ist, die Zukunft meines Bruders ist es nicht. Wir kämpfen weiter, bis er wieder bei uns in Kulmbach ist.“

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