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Gesellschaftlicher Zusammenhalt Corona und der Krieg der Werte

Die Bertelsmann-Stiftung hat sieben unterschiedliche Milieus in Deutschland gefragt: Was halten sie von den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie? Foto: Bertelsmann

Wie viel Freiheit sollte in der Corona-Politik noch erlaub sein? Und welche Rolle spielt das Gemeinwohl? Die Antworten fallen unterschiedlich aus – je nachdem, aus welchem sozialen Milieu der Befragte stammt.

 
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Gütersloh - Sex, Geld oder Religion haben als Tabuthemen ausgedient. Inzwischen ist es die Frage: „Wie hältst Du es mit den Corona-Maßnahmen?“, die man am Gartenzaun tunlichst vermeidet. Denn: Kaum ein Thema erhitzt die Gemüter derzeit so stark, bei keinem gehen die Meinungen soweit auseinander und keines birgt soviel sozialen Sprengstoff wie die C-Frage. Etwas weniger brenzlich wird es, wenn man aus dem gleichen Milieu stammt, wie Hans Müller von nebenan. Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, ist es nämlich dann sehr wahrscheinlich, dass dann ohnehin die gleiche Meinung zu Impfstoffen, Lockdown und Ausgangssperre hat.

Als Milieu bezeichnen Soziologen eine Gruppe von Menschen, die zu wichtigen Fragen die gleichen Wertvorstellungen haben. Dabei spielen Alter, Herkunft oder Religion eine untergeordnete Rolle. So können Menschen, die auf den ersten Blick viel gemeinsam haben, eine völlig unterschiedliche Meinung zur Corona-Politik vertreten. Die Bertelsmann-Stiftung hat sieben unterschiedliche Milieus identifiziert. Jedes von ihnen ist etwa gleich häufig in Deutschland vertreten.

Sieben Wertemilieus

Idealisten, Humanisten, Konservative, Leistungsorientierte, Materialisten, Beziehungsmenschen und Selbstverwirklicher – sie alle unterscheiden sich darin, wie sie die Welt sehen. Und damit auch, wie sie zu den unterschiedlichen Corona-Maßnahmen stehen. Wie genau, das ist im Grunde immer eine Abwägung zwischen zwei Polen: Gemeinwohl versus individuelle Freiheit.

Sieht man sich selbst als Humanist, sollte man sich mit dem leistungsorientierten Macher besser über das Wetter unterhalten. Die Studie ergab nämlich, dass die Unterschiede zwischen Vertreter beider Gruppen oft am größten sind. So trägt der bescheidene Humanist die Corona-Maßnahmen klaglos mit und stellt sein persönliches Wohl gerne hinter dem Gemeinwohl an. Der Leistungsorientierte hingegen sieht jeglichen Eingriff in die vom Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte sehr kritisch, und betont die Verantwortung des Einzelnen. Das heißt jedoch nicht, dass er auf das Allgemeinwohl keinen Wert legt – er gewichtet nur anders. Wenig Interesse am Gemeinwohl zeigen laut der Studie hingegen Materialisten. Für sie stehen Autonomie, Wohlstand und Konsum im Mittelpunkt. Sie sind eher pessimistisch und haben wenig Vertrauen in die Politik und staatliche Institutionen. Oft fühlen sie sich vernachlässigt und finden, ihre Meinung würde nicht ausreichend gehört. Laut den Ergebnissen der Studie macht sie das besonders anfällig für Verschwörungstheorien und Populisten. Dazu neigen Leistungsorientierte zwar nicht, aber auch sie sind eher enttäuscht – weil sie finden, dass ihr Freiheitsgedanke momentan wenig Beachtung findet. Beide, der Materialist als auch der leistungsorientierte Macher, müssen stärker einbezogen werden, so die Schlussfolgerung der Studie. Die Befunde würden die Notwendigkeit der eines breiten gesellschaftlichen Dialogs erfordern, gerade in der Krise. „Die Politik ist gefordert, Abwägungsentscheidungen noch mehr zu erklären und gut zu begründen.“ Soll die Gesellschaft nach der Krise wieder in Schwung kommen, bedürfe es gerade Menschen, die das gesellschaftliche Leben mit Freiheitsdrang, Kreativität und persönlicher Energie füllen.

Junge Macher und alte Selbstverwirklicher

Wenn auch Religion und Herkunft nur selten von Bedeutung sind, unterscheiden sich die Mitglieder eines Milieus was Alter, Einkommen und Bildung betrifft. Dabei ist wichtig zu betonen, dass keines der drei Merkmale ein Ausschlusskriterium für ein bestimmtes Milieu ist; vielmehr handelt es sich um Tendenzen, die bestimmte Wertvorstellungen wahrscheinlicher machen.

Am jüngsten sind leistungsorientierte Macher. Fast jeder Dritte ist zwischen 18 und 30 Jahre alt. Vertreter der Gruppe sind religiös, konservativ und optimistisch. Sie sind gebildet und in ihrem Beruf sehr erfolgreich. Den höchsten Anteil von Menschen über 60 hat hingegen das Milieu der Selbstverwirklicher. Sie sind spirituell, konsumkritisch und leben unkonventionell. Ihre persönliche Entwicklung ist den Menschen dabei wichtiger, als ein hohes Einkommen.

Idealistische Grüne und materialistische AfD-Wähler

Das Milieu entscheidet auch, welche Partei die sieben Vertreter bevorzugt wählen. Materialisten wählen demnach häufig die AfD. Idealisten und Humanisten sind häufig bei den Grünen zu finden. Leistungsorientierte, Beziehungsmenschen und Konservative fühlen sich bei der CDU zu Hause. Und Selbstverwirklicher sind sowohl bei der CDU als auch bei der Linken ähnlich häufig zu finden. Das ist übrigens auch bei den Leistungsorientierten so, hier stellt Die Linke mit 17,1 Prozent nach der CDU die zweit häufigste Wahlpräferenz der Menschen innerhalb des Milieus dar.

Sieben Milieus und drei Perspektiven

Jedes Milieu antwortet anders, wird es nach der Corona-Politik gefragt. Dabei stellt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe keine starre Grenze dar. Werte und Haltungen können sich bei einzelnen Milieus durchaus ähneln. Die Forscher unterscheiden drei Perspektiven, in der verschiedene Antworten zusammengefasst werden.

Die erste ist die auf Freiheit fokussierte Perspektive. Milieus, die zu dieser Sichtweise neigen, lehnen staatlich Eingriffe in die Freiheitsrechte eher ab. Sie befürchten eine Schwächung der Wirtschaft, beharren auf persönliche Entscheidungen und stehen dem Impfen kritisch gegenüber. Daneben haben sie Vorbehalte, ob der Schutz des Lebens über Allem stehen sollte. Leistungsorientierte und Materialisten sind hier überdurchschnittlich vertreten, Humanisten und Konservative seltener.

Eine weitere Perspektive betont vor allem den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Menschen, die zu der Sichtweise neigen, glauben an einer Rückkehr zur Normalität und an die positiven Effekte von Corona. Leistungsorientierte und Beziehungsmenschen neigen hierzu, Materialisten, Humanisten und Konservative eher weniger.

Auf den gesellschaftlichen Wandel konzentriert sich die letzte Perspektive, mit der man die Corona-Maßnahmen betrachten kann. Sie umfasst Menschen, die wollen, dass die Gesellschaft sich nach Corona verändert. Gleichzeitig hat für sie der Schutz des Lebens die höchste Priorität. Bis auf Materialisten und Beziehungsmenschen tendieren alle Milieus zu dieser Perspektive, wenn auch unterschiedlich stark. Grund hierfür könnte sein, dass sowohl Materialisten als auch Beziehungsmenschen Veränderungen eher kritisch gegenüber stehen und generell eher zurückhaltend sind.

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