Fußball-EM 2024 England und Co. – wachen die schlafenden Riesen jetzt auf?

Marco Seliger

Die Teams aus England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien tun sich bisher schwer bei der EM – starten die großen Fußballnationen nun durch, da mit den Achtelfinalspielen die heiße Phase beginnt?

 
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Folgt auf den Frust die große Lust? Jude Bellingham (li.) und Declan Rice wollen mit England durchstarten. Foto: imago/Moritz Müller

Bei Rudi Völler ist es keine Floskel, wenn man sagt, dass der gute Mann schon alles erlebt hat bei großen Turnieren. Weshalb die allgemeine Expertise des Weltmeisters, Ex-Teamchefs und heutigen Sportdirektors sowie Gute-Laune-Beauftragten der DFB-Elf im Verlauf eines Turniers immer von Belang ist. So lohnt es sich reinzuhören bei Völler, wenn er seine Einschätzungen zu den nun beginnenden Achtelfinalspielen zum Besten gibt. „Es gibt Teams, die nicht so überzeugt haben und trotzdem im Achtelfinale sind“, sagt Völler und kommt dann zu seiner Botschaft: „Alles, was bisher war, das habe ich gelernt in den vielen Jahren, das zählt jetzt nicht mehr. Jetzt ist ein neuer Wettbewerb, jetzt ist K. o.-System, jetzt ist Achtelfinale – jetzt zählt es.“

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Vielleicht sollten die Teams aus England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien die letzten prägnanten Völler-Sätze in ihre jeweiligen Landessprachen übersetzen, aufschreiben, in großen Buchstaben ausdrucken und an ihre Kabinentüre hängen. Denn bitte, aus Sicht der bisher schlafenden Riesen der EM können die Worte von Rudi Riese ja als Mutmacher dienen. Frei nach Völlers Motto: Wir vergessen alles Schlechte, was in der Vorrunde war und starten neu durch. Weil: Jetzt zählt es.

Insbesondere England träumt nun von so einem wundersamen Wandel, wenn die heiße Phase losgeht, in dem Fall mit dem Achtelfinale gegen die Slowakei am Sonntag in Gelsenkirchen (18 Uhr/ZDF). Denn die Three Lions waren bisher zahme Löwen. Oder besser: Sie wurden von ihrem Ober-Löwen, dem Trainer Gareth Southgate, nicht von der Leine gelassen. So kommen die individuelle Klasse und das Tempo in der Offensive durch den vom Coach vorgegebenen starren Angsthasenfußball nicht zum Tragen.

Schwer vorstellbar ist es, dass das Team und der Trainer nun den berühmten Schalter finden, den sie nun vom Achtelfinale an umlegen. Ganz ausgeschlossen ist das freilich nicht – und wenn die Engländer das Achtelfinale überstehen, könnte der günstige Turnierbaum weiterhelfen. Denn mit Deutschland, Spanien und Frankreich sind drei Favoriten in der anderen Hälfte des Tableaus.

Apropos Frankreich: Im Team von Didier Deschamps sind die Dinge vor dem Achtelfinale gegen Belgien am Montag in Düsseldorf (18 Uhr/ZDF) ähnlich gelagert wie bei den Engländern – und doch sind sie anders. Denn auch die Franzosen spielten zwar in der Vorrunde unter ihren Möglichkeiten – das aber lange nicht so weit wie die Three Lions. Anders als beim Southgate-Team hat man bei Deschamps‘ Jungs obendrein das Gefühl, dass sie jederzeit explodieren können. Defensiv sind die Franzosen ja traditionell stark, nach vorne wiederum, das zeigte die jüngere Vergangenheit, geht je länger das Turnier dauert immer mehr. Allen voran Topstar Kylian Mbappé startet dann gerne durch. Frankreich, Weltmeister 2018 und Vize-Weltmeister 2022, prägt mit Minimalismus auf höchstem Niveau seit Jahren die Turniere. Gut möglich, dass diese Kunstform, gepaart mit der geballten individuellen Klasse, auch anno 2024 noch zum Erfolg führt.

Die Belgier wiederum, die nun in Düsseldorf auf die Equipe Tricolore treffen, hätten gerne wie ihr Gegner aus dem Nachbarland nur fußballerische Debatten abzumoderieren. Die Probleme des Teams von Domenico Tedesco liegen aber tiefer, da sie atmosphärischer Natur sind. Die Fans pfiffen die Mannschaft nach dem 0:0 gegen die Ukraine im letzten Vorrundenspiel in Stuttgart gnadenlos aus, im Team selbst soll die Harmonie wie schon so oft auch nicht die größte sein – und, ja, auch fußballerisch liegt einiges im Argen. Aber auch bei den Roten Teufeln um Topstar Kevin De Bruyne lässt sich sagen: Steigerung nicht ausgeschlossen!

Das gilt so auch so für den Nachbarn der Belgier in orange. Auch die Niederlande tat sich schwer in der Vorrunde. Konnte man dabei nach den ersten beiden Partien noch sagen, dass die Auftritte nach vorne zwar etwas bieder, aber hinten stabil waren, so war nach der völlig missratenen Leistung beim 2:3 gegen Österreich im Gruppenfinale alles anders. Vor dem Achtelfinale gegen Rumänien am Dienstag in München (18 Uhr/ARD) herrscht nun Alarmstufe Rot bei Oranje. Ob er die Fehler aufzählen könne, wurde Bondscoach Ronald Koeman nach dem Spiel gegen Österreich gefragt. „Haben Sie viel Zeit, ich kann einige nennen“, antwortete der Trainer. Die Kurzfassung: Im Angriff stockte weiter vieles, in der Defensive war die Elftal plötzlich anfällig, die Leidenschaft fehlte – mit dieser fatalen Mischung droht nun gegen die Rumänen das Aus. Zumal die individuelle Klasse im Kader nicht so hoch ist wie bei den Engländern und Franzosen.

Auch die Italiener wollen das Aus in der Runde der letzten 16 Teams gegen die Schweiz an diesem Samstag in Berlin (18 Uhr/RTL) verhindern. Allein, was früher selbstverständlich gewesen wäre vor einem Duell gegen das kleine Nachbarland im Norden, gilt nun nicht mehr: Italien geht nicht als Favorit ins Spiel, und das aus guten Gründen: Die Defensive, das traditionelle Prunkstück der Squadra Azzurra, steht bei dieser EM nicht sicher. Und nach vorne fehlt es bisher an Struktur, Finesse und Klasse.

Aber wer, wenn nicht Italien, könnte das frei nach Rudi Völler alles vergessen lassen – jetzt, da die heiße Phase der EM beginnt?