Freispruch im Badewannen-Mord-Prozess 13 Jahre Lebenszeit gestohlen

Patrick Guyton

Im sogenannten Badewannen-Mord-Prozess hat das Landgericht München I den wegen Mordes angeklagten 63-jährigen Manfred Genditzki nach mehr als 13 Jahren Haft freigesprochen. Die Richterin spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“ und entschuldigt sich.

Manfred Genditzki freut sich mit Ehefrau Maria im Badewannen-Mord-Prozess über seinen Freispruch. Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Am Vormittag um 10.02 Uhr, nachdem im Münchner Gerichtssaal A-101 im Justizzentrum alle aufgestanden sind, sagt die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl die Sätze, auf die alle warten: Die vorherigen Urteile sind aufgehoben, „Manfred Genditzki ist freigesprochen“. Stille im Saal und auf der großen, prallvollen Besuchertribüne. Man hört ein vielfaches Durchatmen. Dass im Gerichtssaal nicht applaudiert wird, wissen die Leute. Manche Angehörige und Freunde beginnen zu weinen.

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Mit „bewundernswerter Geduld“ habe der Hausmeister Genditzki aus Rottach-Egern am Tegernsee für seinen Freispruch gearbeitet – und zwar aus dem Gefängnis heraus, denn dreizehneinhalb Jahre lang saß er dort als verurteilter Mörder der Seniorin Lieselotte Kortüm, Stichwort Badewannen-Mord. „Ein steiniger Weg“ sei das gewesen, sagt die Richterin, und sie wünscht dem heute 63-Jährigen, „dass Sie wieder in ein halbwegs geordnetes Leben zurückfinden“. Am Ende ihrer Urteilsbegründung wird Elisabeth Ehrl noch Deutlicheres sagen.

Die Ermittler und Staatsanwälte sollten Genditzki als Mörder sehen

Ein Justizirrtum, ein Justizskandal ist an diesem Freitag aufgehoben worden. Zwei Fehlurteile mit katastrophalen menschlichen Folgen: Genditzki wurden mehr als 13 Jahre seiner Lebenszeit gestohlen, er war weggesperrt. Die meiste Zeit davon in der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech, wo er in der Wäscherei arbeitete. Er konnte seine Familie nicht sehen, die beiden kleinen Kinder nicht beim Aufwachsen begleiten, nicht als Hausmeister arbeiten, nicht seine vielen engen Verwandten in Mecklenburg-Vorpommern treffen.

Die Ermittler und Staatsanwälte von einst wollten Genditzki als Mörder sehen. Die 87-jährige Witwe Lieselotte Kortüm war am Abend des 28. Oktober 2008 vom Pflegedienst tot in ihrer vollgelaufenen Badewanne gefunden worden, der Kopf und Teile des Körpers unter Wasser. Ein Rechtsmediziner stellt Tod durch Ertrinken fest und sieht „keine zwingenden Anhaltspunkte“ dafür, dass sie ermordet worden ist. Die Ermittlungsbeamten hegen aber einen Verdacht gegen Genditzki, den Hausmeister der Wohnanlage, der sich privat um Frau Kortüm gekümmert und sie an jenem Tag aus dem Krankenhaus abgeholt hatte.

Das Gericht hält einen ganz anderen Verlauf der Dinge für richtig

Sie holen den Rechtsmediziner Wolfgang K., eine Koryphäe in seinem Fach, nochmals in die Wohnung. Er ändert seine Einschätzung: Ein Sturz könne die Wunden am Kopf und die Lage der Leiche in der Wanne nicht erklären. Von da an hätten die Ermittler, so die Richterin in der Urteilsbegründung, „sehr einseitig gearbeitet zulasten von Herrn Genditzki“. Es wurde ihm unterstellt, Frau Kortüm bestohlen zu haben – was sich erwiesenermaßen als falsch herausstellte. Es soll zu einem Streit gekommen sein, in dessen Folge er die Frau auf den Kopf geschlagen habe. Um dies zu vertuschen, habe er sie in der Badewanne ertränkt. Dann soll er zweimal den Hausarzt der Frau angerufen haben, um die Tötung zu gestehen, aber gleich wieder aufgelegt haben. Genditzki soll den Wohnungsschlüssel außen in die Tür gesteckt haben, damit der Pflegedienst den Leichnam findet und nicht er als Hausmeister kommen muss, um die Wohnung zu öffnen. Und, so die Ermittler von einst, Genditzki habe bei Vernehmungen „komisch“ gewirkt.

Das Gericht jetzt hält einen ganz anderen Verlauf der Dinge für richtig. Genditzki hat demnach die Frau in die Wohnung begleitet und ist gegangen. Den Schlüssel hat er auf Anweisung Lieselotte Kortüms außen in die Tür gesteckt, damit der Pflegedienst reinkommt, falls sie schlafen sollte. Den Arzt rief Genditzki zweimal an, um mitzuteilen, dass die Frau wieder zu Hause war. Doch er erreichte ihn nicht.

Mehr als zehn Jahr hat Genditzki für die Wiederaufnahme gekämpft

Lieselotte Kortüm war krank, ihr wurde häufig schwindlig, allein 2008 wurden vier Stürze dokumentiert. Das Gericht geht davon aus, dass sie sich über die Badewanne gebeugt hatte, um verschmutzte Wäsche einzuweichen, eine ihr typische Angewohnheit. „Sie ließ Wasser ein, stürzte mit dem Kopf voraus in die Badewanne, und es gelang ihr nicht, wieder rauszukommen“, so Richterin Ehrl. „Das ist der Sachverhalt, von dem wir ausgehen.“ Genditzki habe sich nicht, wie es im ersten Urteil steht, ihr Vertrauen „erschlichen“. Elisabeth Ehrl: „Er war stets bemüht, sich absolut korrekt zu verhalten.“

Mehr als zehn Jahre lang hatte Genditzki zusammen mit seiner Anwältin Regina Rick für die Wiederaufnahme des Verfahrens gekämpft. Den entscheidenden Durchbruch verschafften die beiden Stuttgarter Professoren Niels Hansen und Syn Schmitt. Mit der Anwältin Rick blieben sie an dem Fall dran.

Der Thermodynamiker Hansen fand anhand der Temperatur des Badewannenwassers heraus, dass Lieselotte Kortüm nicht vor 15.09 Uhr gestorben war, wie angenommen, sondern höchstwahrscheinlich zwei Stunden später: in einem Zeitraum, für den Genditzki ein Alibi hat. Physiker Schmitt wiederum modellierte die Bewegungen von Frau Kortüm in unzähligen Versuchen. Ergebnis: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es ein Sturz. „Ganz entscheidende Gutachten waren das“, so die Richterin. Die Folge: Wegen „erwiesener Unschuld“ wird der Hausmeister freigesprochen, das ist ein Freispruch erster Klasse.

Mit den Ermittlern und der Justiz geht Ehrl in einer Art und Weise ins Gericht, die man so noch nicht gehört hat. Die Kammer sei „sehr verwundert über die Ermittlungen damals“. Alles sei „irgendwie schiefgelaufen“. Die Richterin spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“. Sämtliche Kontrollen hätten „nicht funktioniert“. Manfred Genditzki sei der „Hauptleidtragende, mitten aus dem Leben gerissen“. Sie wünscht ihm, „endlich wieder zur Ruhe zu kommen“ und sagt: „Es tut uns aufrichtig leid.“

Was passiert mit den damals Verantwortlichen? „Nichts“, sagt Anwältin Rick trocken. Denn sie haben nicht vorsätzlich gehandelt. 75 Euro Haftentschädigung pro Tag stehen Manfred Genditzki als Minimum zu, das wären 370 000 Euro. Doch dabei wird es nicht bleiben, in einem Prozess könnte mehr Entschädigung durchgesetzt werden.

Draußen vor dem Gericht jubeln die vielen Unterstützer und Verwandten und lassen ihren Tränen freien Lauf. „Die haben eine Familie zerstört“, sagt jemand. Genditzkis Frau Maria hat einen großen Strauß bekommen. Manfred Genditzki selbst hat feuchte Augen. „Alle haben immer zu mir gestanden“, sagt er. Die Kinder haben 30 Euro von ihrem Taschengeld gespendet, um bei den Prozesskosten zu helfen. Genditzki berichtet, dass er schlecht geschlafen hat und sicherlich eine Weile weiter schlecht schlafen wird. Ansonsten ist er recht regungslos und meint: „Ich werde keine Freudensprünge machen.“