Die Küsten Europas waren bis vor 100 Jahren voll davon. Forscher geben Einblick in die damalige Welt.
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Europäische Austern haben einst ausgedehnte Riffe vor den Küsten Europas gebildet, die sich von Norwegen bis zum Mittelmeer erstreckten. Die komplexen Ökosysteme aus lebenden und bereits abgestorbenen Austern bieten Lebensräume für zahlreiche andere Tiere, wie ein Forschungsteam im Fachblatt „Nature Sustainability“ berichtet. Insgesamt hätten die Riffe mindestens 1,7 Millionen Hektar umfasst, ein Gebiet größer als Thüringen.
Die Austernriffe seien vor mehr als 100 Jahren vor allem durch Überfischung zerstört worden, berichten 30 Forscher aus Europa, darunter von der Universität Rostock, vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI) und vom Zoologischen Museum Kiel.
Auch verminderte Wasserqualität, Sedimentablagerungen und die Einschleppung von Krankheitserregern führten demnach dazu, dass die Art heute in einem Großteil ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets praktisch ausgestorben ist.
Die Europäische Auster (Ostrea edulis) verschwand auch aus der deutschen Nordsee. Bei den Austern, die heute im Sylter Wattenmeer weit verbreitet sind, handelt es sich um die eingeschleppte Pazifische Auster (Crassostrea gigas).
Nur noch einzelne Austern übrig
Zwar finden sich teilweise noch Europäische Austern, aber diese leben meist vereinzelt in den Meeren, wie es in der Studie heißt, und kaum noch in Klumpen, Bänken und Riffen zusammen. An mehreren Orten gibt es Wiederansiedlungsprojekte, etwa in der Nordsee vor Borkum. Diese Projekte müssten forciert werden, meinen die Forschenden.
Nach Angaben des AWI sind Austernriffe ökologisch ähnlich bedeutsam wie Korallenriffe. In der aktuellen Studie heißt es, in den Kalkstrukturen lebten mehr Arten als in den umliegenden Gebieten im Meer. Außerdem stabilisierten die Austern die Küstenlinien und filterten Wasser. Eine einzelne Auster könne bis zu 200 Liter am Tag durchleiten.
Alte Zeitungen, Seekarten und Interviews
Austernriffe soll es früher fast überall entlang der europäischen Küsten gegeben haben. Um Details über die Ausmaße zu erfahren, schauten sich die Forscher historische Aufzeichnungen wie Zeitungen, Bücher, Reiseberichte, Seekarten, frühe wissenschaftliche Untersuchungen, Zollabrechnungen und Aufzeichnungen über Austernlizenzen an. Die größte Konzentration von Austernriffen fanden die Forschenden im südlichen Teil der Nordsee, darunter auch in Deutschland.
Eines der herangezogenen Bücher war „Die Auster und die Austernwirtschaft“ von Karl Moebius, Professor der Zoologie in Kiel, aus dem Jahr 1877. Darin steht: „Im schleswig-holsteinischen Wattenmeere liegen 47 Austernbänke von sehr verschiedenem Umfange. Die größte ist über drei Kilometer lang. Die meisten sind kürzer. Die Gesamtzahl der vollwüchsigen Austern, welche auf den schleswig-holsteinischen Bänken liegen, schätze ich auf ungefähr fünf Millionen.“
Philine zu Ermgassen von der britischen Universität Edinburgh, eine der Hauptautorinnen, erklärt: „Austernriffe entwickeln sich nur langsam, indem sich Schichten neuer Austern auf den abgestorbenen Schalen ihrer Vorgänger bilden, aber ihre Zerstörung durch Überfischung erfolgte relativ schnell“» Das habe zu einer Abflachung der Meeresböden geführt.
„Wir neigen dazu, uns unseren Meeresboden als flache, schlammige Fläche vorzustellen“, fügt Co-Hauptautorin Ruth Thurstan von der Universität Exeter hinzu. „Aber in der Vergangenheit waren viele Orte eine dreidimensionale Landschaft mit komplexen lebenden Riffen, die heute völlig aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind.“