Im überfüllten Schlauchboot über das Meer
Rückblick auf 2015: Alireza hatte Glück. Als die Polizei den 14-Jährigen auf einer Baustelle in Maschhad kontrolliert, wird er verhaftet. Er hat keinen Pass. Flüchtlinge im Iran seien gesetzlos, sagt er. Die Polizisten stellen ihn vor die Wahl: Zurück nach Afghanistan oder zum Kriegseinsatz nach Syrien. Auf dem Weg zur Polizeistation kann er entkommen. Ihm und seinen Eltern ist klar: Alireza muss das Land verlassen. Sie geben ihm ihre Ersparnisse. In der Nacht macht er sich auf in Richtung Türkei. Nach nächtelangen Märschen, mal allein, mal mit anderen afghanischen Flüchtlingen, die ein zweites Mal, diesmal aus dem Iran, flüchten müssen, erreicht er die Türkei. Er lebt zwei Wochen auf der Straße, bis er jemanden trifft, der jemanden kennt, der ein Schlauchboot hat. Der Schleuser nimmt ihm sein gesamtes Geld weg. 400 Euro muss er für die Überfahrt zahlen. Als Griechenland schon in Sichtweite ist, greift das griechische Patrouillenboot an. „Wir waren 56 Menschen, Männer, Frauen, Kinder und ein Baby. Das Boot war etwa sieben Meter lang. Platz für 17 Menschen. Als die Wellen kamen, haben wir geschrien, uns aneinander geklammert. Die Frauen haben geweint. Nur die Kinder waren ganz still“, erinnert er sich. Er, der nicht schwimmen konnte, habe mit dem Tod gerechnet, sagt er. Aber Angst habe er nicht verspürt.
Über Pegnitz nach Creußen
Alireza und die anderen schaffen es, sie erreichen den Strand. Welche Insel es war, hat Alireza nie erfahren. Er wird mit anderen, unbegleiteten jungen Flüchtlingen nach Athen gebracht. In der Unterkunft können sie sich ausruhen, bevor sie sich per Bus und Auto, zumeist jedoch zu Fuß, aufmachen auf den Flüchtlingszug in Richtung Europa. „Ich wusste nicht wohin. Ich hatte keinen Plan. Ob Deutschland, England, Schweden, egal. Ich wollte einfach nur irgendwohin, wo ich keine Angst mehr haben musste“, sagt Alireza. Sein Weg endet – vorerst – in Ungarn. Nach Tagen des Wartens unter freiem Himmel ergibt sich die Chance auf einen Platz in einem Kühllaster. „Wir waren 30 Leute. Es war so eng, dass ich stundenlang nur auf einem Fuß stehen konnte.“ Als sich die Türen wieder öffnen, ist es tiefe Nacht. „Alle raus, wir sind in Deutschland“, habe der Fahrer gerufen. Auf einem Autobahn-Parkplatz kurz hinter der deutsch-österreichischen Grenze endet die Fahrt. Der Fahrer lässt die Gruppe zurück. „Manche sind einfach weitergelaufen. Ich habe mit anderen gewartet“, sagt Alireza. Nach wenigen Minuten hält eine Polizeistreife, kontrolliert die Gruppe. Die herbeigerufene Verstärkung bringt sie in die Polizeistation, wo Alireza und die anderen übernachten können. Nach drei weiteren Tagen in einer Unterkunft in Passau startet ein Bus in Richtung Nürnberg. Alirezas Fahrt endet in Pegnitz. Sechs Monate später wird er nach Creußen verlegt. Ein Helferkreis unterstützt ihn bei allem, was wichtig ist: Behördengänge, die Sprache lernen, Schule, Freunde und einen Ausbildungsplatz finden. Die Angst verfliegt.
Die Angst ist zurück
Jetzt ist sie wieder da, die Angst. Die Nachrichten, das Video. Und die Tatsache, dass seine Ausbildung zum Maler und Lackierer bald enden wird und er nicht weiß, was danach kommt. Sein Ausbildungsbetrieb würde ihn weiterbeschäftigen. Alireza ist künstlerisch begabt. Rund 150 Bilder hat er schon gemalt und gezeichnet, zwei Ausstellungen in Bayreuth mit seinen Werken bestückt. Die Kunstakademie in Nürnberg würde ihn aufnehmen, aber ihm fehlt ein wichtiges Formular, das den Besuch eines zweiten Deutschkurses bescheinigt. Getestet wurde er, der selbst in der Berufsschule kaum sprachliche Probleme hat, nicht. Besonders starke und unabhängige Tiere wie Adler und Tiger tauchen auf seinen Bildern immer wieder auf. „Sie müssen vor nichts und niemandem Angst haben. Sie sind frei“, begründet er seine Vorliebe. Und fügt an: „Wenn ich male, bin ich auch frei.“ Mit der Malerei bekämpft er seine Ängste. Zuletzt hat er Karikaturen gezeichnet, die von Afghanistan handeln. Von der Rückführung, von den Zuständen im Land, wenn die Taliban wieder die Macht ergreifen. Im Moment könne er nicht mehr malen. Die Gedanken kreisen um die Zukunft. Er nimmt wieder die Tabletten, die ihm ein Arzt gegen seine Angst verschrieben hat. „Ein Leben mit dieser Angst“, sagt Alireza, „ist kein schönes Leben.“