Gesundheitsdaten aus Israel weisen allerdings darauf hin, dass eine hohe Impfquote im Land offenbar das Risiko für ungeimpfte Jugendliche vermindern kann, sich mit Corona anzustecken. Mit zunehmender Zahl geimpfter Erwachsener wurden demnach immer weniger unter 16-Jährige positiv auf Corona getestet, berichten israelische Forscher im Fachjournal „Nature Medicine“. Allerdings seien weitere Analysen zu diesem Effekt nötig.
Drosten: „Bedrohungslage neu betrachten“
Experten aus Virologie und Epidemiologie erwarten, dass sich die Last durch die Krankheit mit fortschreitenden Impfungen immer weiter reduziert: mit weniger Krankenhausbehandlungen, weniger Fällen auf Intensivstationen und weniger Todesfällen. Der Virologe Christian Drosten stellte im NDR-Info-Podcast „Coronavirus-Update“ in Aussicht, dass man irgendwann über den Sommer „zu einer anderen Betrachtung der ganzen Bedrohungslage“ kommen müsse.
„Die Länder, die eine Durchimpfung von 50 oder 60 Prozent haben, dürften dieses Jahr keine größeren landesweiten Ausbrüche oder Wellen mehr erleben, wie wir sie gerade in Indien sehen“, sagte der US-Epidemiologe Michael Osterholm kürzlich „Zeit Online“ mit Blick auf die USA, Großbritannien und Israel. Auch für Deutschland erwartet das RKI bei vorsichtigen Öffnungsschritten und zunehmender Durchimpfung in nächster Zeit kein unkontrolliertes Infektionsgeschehen mehr.
Schlechte Datenlage zum Impffortschritt
Osterholm verwies allerdings auf Bevölkerungsgruppen, in denen wegen geringer Impfquoten weitere Ausbrüche drohen: „Ganz entscheidend wird in Zukunft sein, ob alle Menschen den Impfstoffen vertrauen oder ob sich das Vertrauen zwischen bestimmten Nachbarschaften, sozialen Schichten und ethnischen Gruppen stark unterscheidet.“
Genaue Daten zum Impffortschritt in bestimmten Gruppen vermissen Experten in Deutschland. Seit auch Spritzen in Arztpraxen gesetzt werden, gibt es in RKI-Statistiken zum Beispiel nur noch eine grobe Alterseinteilung: Ablesen lässt sich der Anteil der Impfungen bei Menschen über 60 oder unter 60 Jahren – und das auch nicht bei allen Bundesländern. Genauere Daten würden höheren Dokumentationsaufwand bedeuten.
Experten rechnen mit vierter Welle im Herbst
Watzl befürchtet für Deutschland, dass Impfmüdigkeit einsetzen könnte, wenn erst einmal 50 Prozent und mehr geimpft sind: „Wenn es uns gelingt, die Inzidenzen über den Sommer niedrig zu halten, werden sich 30-Jährige, die im Frühjahr nicht an einen Impftermin gekommen sind, vielleicht fragen, warum sie sich jetzt noch impfen lassen sollten.“ Auch in anderen Ländern, die bereits höhere Quoten aufweisen, zeigte sich, dass die Kampagnen ab einem gewissen Punkt ins Stocken gerieten – teils wird dort nun mit allen erdenklichen Anreizen für den Piks geworben.
Dabei ist der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie sicher, dass es eine vierte Welle geben wird, spätestens im Herbst. „Wie groß sie ausfallen wird, hängt vom Impferfolg und der Höhe der Inzidenzen am Ende des Sommers ab.“ Vermieden werde müsse ein Szenario, bei dem ein Teil der Bevölkerung erst im Herbst bei direkter Konfrontation mit der Virusgefahr wieder ans Impfen denkt: „Dann bekommen wir ein logistisches Problem.“
Zweitimpfung gegen Mutanten
Erstimpfungen gelten als Schutz insbesondere vor schwerer Erkrankung. Dieser wird durch die Zweitimpfung noch verbessert und verlängert. „Ein bisschen entspannen können sich einfach Geimpfte, aber leichtsinnig werden sollten sie nicht“, sagte Watzl. Insbesondere Virusvarianten, die seit Monaten für das Gros der Fälle in Deutschland sorgen, werden als Gefahr gesehen. „Die Zweitimpfung ist dringend notwendig, um auch die Mutanten gut abwehren zu können.“ Lediglich das Präparat von Johnson & Johnson ist als Einmalimpfung zugelassen.
Allerdings wirkt keine Impfung zu 100 Prozent. Ansteckungen und zumindest leichtere Erkrankungen sind weiterhin möglich – sie sind nur wesentlich unwahrscheinlicher. Varianten können zudem durch Erbgutveränderungen Eigenschaften erlangt haben, die es ihnen ermöglichen, Antikörpern von Geimpften und Genesenen zu entgehen. In der Fachsprache heißt das Immunescape, also Immunflucht. Der Immunschutz wird nicht komplett ausgeschaltet, ist aber merklich vermindert.
Drittimpfung bei immungeschwächten Menschen
Die derzeit in Deutschland dominierende Corona-Variante Alpha (B.1.1.7) hat die Eigenschaft, ansteckender zu sein. Wie eine „Science“-Studie kürzlich zeigte, scheiden damit Infizierte etwa zehnmal mehr Virus aus als Menschen, die sich mit Vorgängerversionen ansteckten. Auch das ist für den Impfschutz bedeutsam, wie Watzl erläutert: „Wie gut der Schutz ausfällt, hängt nicht nur vom Immunsystem des Einzelnen ab, sondern auch von der Menge an Virus, der man ausgesetzt ist.“ Zudem hat sich gerade bei immungeschwächten Menschen – etwa nach Organtransplantation oder mit Krebs – gezeigt, dass die Impfung nicht so gut anschlägt. Watzl rechnet in diesen Gruppen mit Drittimpfungen bereits im Herbst.
Nach Zahlen, die das Bundesgesundheitsministerium im Mai bekannt gab, steckten sich bisher rund 13 000 Menschen an, die bereits voll geimpft waren. Die Zahl klingt hoch. In Relation zur Gesamtzahl der bis dahin komplett Geimpften waren aber nur 0,16 Prozent betroffen. Auch war bei den Zahlen nicht klar, ob die Infektion bei vollem Impfschutz auftrat – also mehr als 14 Tage nach der zweiten Impfung – oder in den Tagen davor.