Vor allem Weber - der sich selbst als Brückenbauer bezeichnet - hatte trotzdem sehr lange versucht, Orbans Fidesz-Kollegen in der EVP-Fraktion zu halten. CDU und CSU, die stärkste Gruppe in der Fraktion, traten bei angedachten Maßregelungen auf die Bremse. Jetzt aber sagte ihr Chef Daniel Caspary: "In den vergangenen Monaten hat sich der Konflikt mit der Fidesz leider weiter zugespitzt. Deshalb haben wir ein klares Zeichen gesetzt."
Abgeordnete der Orban-Partei gehörten seit Ungarns EU-Beitritt 2004 der EVP-Fraktion an. Anfangs galt Orban den Christdemokraten als Hoffnungsträger eines neuen, demokratischen Osteuropas. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) fand Gefallen an ihm. Doch Orbans Regierungsstil seit 2010 eckte an. Immer spürbarer nahm der Machtpolitiker Justiz und Medien in Ungarn an die Leine.
Vor allem die Rechtsstaatsfrage trieb zunehmend einen Keil zwischen Orban und die EVP. Seine rigide Abschottungspolitik während der Flüchtlingswanderungen 2015 fand zwar durchaus Bewunderer über seine Lager hinaus. Doch der Europäische Gerichtshof stellte mehrfach klar, dass viele der forschen Maßnahmen zur "Grenzsicherung gegen illegale Migranten" gegen das europäische Recht verstoßen hatten.
Orban wurde immer angriffslustiger, attackierte EVP-Schwergewichte wie den damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker oder Fraktionschef Weber mit kruden Verschwörungstheorien, mit denen er sie als Marionetten des US-Investors George Soros verunglimpfte. Für Kopfschütteln sorgten Orbans vollmundige Behauptungen, dass die EVP ihre "christlichen Wurzeln" aufgegeben habe und sich in zeitgeistigem "liberalem Blabla" verliere. Nur er, Orban, halte die wahren Werte der Christdemokratie hoch.
Diesen Vorwurf gab Fraktionschef Weber zurück. Orbans Partei stehe nicht länger auf derselben Grundlage wie die christdemokratischen Gründerväter einschließlich Konrad Adenauer, sagte der CSU-Politiker. "Es ist der Fidesz, der sich abgewandt hat." Im Übrigen aber war die Zuspitzung dem Konsenspolitiker Weber sichtbar mulmig: "Dies ist kein Tag, wo ich sagen könnte, ich wäre glücklich, über das, was passiert ist."
Sein Parteikollege Alexander Dobrindt brachte es auf den Punkt: "Das kann langanhaltende und weitreichende Folgen für die EVP-Parteienfamilie haben und wird auch auf den europäischen Einigungsprozess eine negative Wirkung haben."
Denn was macht Orban jetzt im Abseits? Denkbar wäre ein Wechsel der Fidesz-Abgeordneten zur rechtsnationalen EKR oder zur noch weiter rechts stehenden Gruppe ID im Parlament. Für die ID-Fraktion meinte AfD-Chef Jörg Meuthen sogleich: "Orban ist bei uns willkommen!" Beides würde die Rechte im Europaparlament stärken. Und Orbans Verhalten in der EU würde womöglich noch unberechenbar.
Zuletzt hatte er Ende 2020 wochenlang den EU-Finanzrahmen blockiert, weil er sich nicht mit einem neuen Rechtsstaatsinstrument abfinden wollte. Demnach können EU-Gelder gekürzt werden, wenn Länder bestimmte Grundregeln nicht einhalten. Orban gab sich letztlich mit einem Kompromiss zufrieden, den er als Sieg wertete. Es wird nicht die letzte Machtprobe gewesen sein.
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