Und es ist nur ein Moment von unzähligen, in denen sich die Meisterschaft Koskys zeigt, mehrere ineinander verschachtelte Ideen packend und unterhaltsam auf die Bühne zu bringen.
Regisseur Barrie Kosky entspannt
Gute eineinhalb Stunden hält man Koskys „Meistersinger“ also für eine komödiantische Rekonstruktion der vermeintlich guten alten Wahnfried-Zeiten – am echten 13. August 1875, am Rande bemerkt, gab es tatsächlich ein großes Gartenfest in Wahnfried, mit den Mitwirkenden des ersten Rings, die gerade die ersten Proben hinter sich hatten (die aber, anders als Koskys Handwerksmeister, nicht als Allegorien des renaissancezeitlichen Nürnbergs mit Dürermähne im Pelzrock aus dem Flügel gestiegen sein dürften).
Nach den eineinhalb Stunden aber gelingt Kosky dann der Coup: In den letzten Takten des ersten Aufzugs verschwindet der Wahnfried-Salon auf die Hinterbühne - und gibt den Blick frei auf das Innere des Nürnberger Justizpalasts, Schauplatz der Nürnberger Prozesse. Kosky, und das ist nun die größte und raumgreifendste Idee dieser Inszenierung, stellt die „Meistersinger von Nürnberg“ an und für sich vor Gericht. Die Festwiese, der Wach-auf-Chor, der Wahn-Monolog, Sachs’ Schlussansprache: All dies findet im Gerichtssaal statt, mit den holzvertäfelten Saalwänden, den Bänken und den Flaggen der Siegermächte als der Kontext, vor dem - und nur vor dem - die Handlung heute gesehen werden kann. Das funktioniert in vielen Szenen besser und in manchen schlechter, das Schlussbild aber hat das Potenzial, eine Ikone zu werden: Richard Wagner, im Zeugenstand des leeren Nürnberger Schwurgerichtssaals, plädiert für die Ehre der deutschen Meister, dann dirigiert er den von hinten hereinfahrenden Chor nebst einem vom Chor wunderbar gemimten Orchester; bei den Schlussakkorden ist Wagner, mit dem Rücken zum Publikum, wieder allein.
Videokritik zur Meistersinger-Premiere, Teil 2
Natürlich funktioniert das nur in der größtmöglichen Brechung: aufwendigste Kostüme, entworfen von Klaus Bruns, die in einer Inszenierung der „Meistersinger“ zugleich ihre eigenen Klischees sind wie auch Zitate des Großteils der früheren Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierungen, die mit weit weniger Dimensionen als diese auskommen sollten. Und gewaltige, detailverliebte Bühnenbilder von Rebecca Ringst. Unter den vielen Stärken von Koskys Inszenierung ist dies vielleicht die größte: dass sie sich stets auf mehreren Zeit- und Abstraktionsebenen gleichzeitig bewegt. Auch am gefährlich nahe an der Plattheit vorbeischrammenden Ende des zweiten Aufzugs - als Beckmesser in der Prügelszene unter einem gigantischen Ballonkopf einer Judenkarikatur in NS-Schmähästhetik verschwindet, der aus dem Zeugenstand aufsteigt und dann in sich zusammensackt. Dieser Moment ist einer der wenigen dieses Abends, in denen Kosky doch berechenbar bleibt.
Auch musikalisch fliegt an diesem Abend vom ersten Moment an die Tür auf, und Richard Wagner stürmt herein. Man kann diese Musik so dirigieren, dass sie klingt wie eine der alten Butzenscheiben-Inszenierungen. „Sehr mäßig bewegt“ steht als Spielanweisung im ersten Takt des Vorspiels in den Noten, sehr mäßig bewegt ist hier aber gar nichts. Philippe Jordan entscheidet sich gegen diese angedickte Klangtradition - und für eine schlanke, unpathetische, entfettete Deutung. Jordans „Meistersinger“ wirken transparent und durchscheinend, mit deutlich hörbarem Willen zur Unterscheidbarkeit - aber ab und an immer wieder Momenten, die unentschieden wirken, manche sogar an der Grenze zur Unsicherheit. Zum Beispiel die großen Chorstellen in der Prügelszene – hier herrscht zwischen den verschachtelten Stimmen über etliche Takte hin schieres Chaos, das entweder perfekt und minutiös choreografiert ist - oder tatsächlich einfach unterläuft und dann gekonnt auf- und wieder eingefangen wurde. Ohnehin sitzen die Musiker des Festspielorchesters hörbar auf der Stuhlkante. Die Musiker sitzen hörbar auf der vordersten Stuhlkante, Walthers Preislied wird auch für das Orchester ein Bravourstück in Liedbegleitung.
Videokritik zur Meistersinger-Premiere: Teil 3
Was die Besetzung betrifft, ist diese Produktion ohnehin beinahe über jeden Zweifel erhaben. Für Michael Volle wird der Abend ein Triumph, er ist ein schlichtweg hervorragender Sachs -
immer textverständlich, aber doch verschwenderisch im Schusterlied, sowohl im Wahnmonolog als auch in der Schlussansprache eindringlich, nie übertrieben breitschultrig, und – in der umfangreichsten aller Wagner-Partien – ungefährdet bis zum Schluss. Das gilt in exakt gleichem Maß auch für Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, es ist eine Freude, den beiden zuzusehen, wie sich mit Haut und Haar in die Rollen werfen und so gekonnt an die Grenzen gehen, dass ihnen nicht anzumerken ist, wieviel Spielraum noch bliebe.
Klaus Florian Vogt hat als Stolzing die knabenhafte Klarheit früherer Zeiten abgelegt, das kleine Quentchen Rauheit und Charakter bekommt seiner Stimme wie auch der Figur sehr gut, die ansonsten neben Wagner allein deshalb nicht hervorsticht, weil seine Rolle auch im Kosky-Kosmos die erwartbarste Entwicklung durchmacht. Günther Groissböck ist ein souveräner, stimmschöner Veit Pogner, Wiebke Lehmkuhl überzeugt als Magdalene, ebenso wie Daniel Behle als David. Anne Schwanewilms kann nur in manchen Lagen das volle Farbspektrum ihrer Stimme ausschöpfen und muss sich für die teils spröden Spitzen ein paar schmerzhafte Buhs gefallen lassen.
Michael Volle glücklich nach der Aufführung
Diese „Meistersinger“ werden in die Deutungsgeschichte nicht nur deshalb eingehen, weil es sie mit diesem Regisseur in diesem Haus überhaupt gab. Sondern weil sie, wie zuletzt auch der „Parsifal“ von Stefan Herheim, die Rezeptions- mit der Aufführungsgeschichte verquicken und daraus eigene Ideen schöpfen. Und dies alles gekonnt und erkennbar auf die Bühne bringen. Wenn es immer noch der Anspruch der Festspiele ist, Maßstäbe zu setzen mit den hier aufgeführten Produktionen, dann ist das diesmal aufs Beste geglückt.
Der Jubel ist groß am Ende des Abends, nicht nur, aber wohl auch in der Nachwirkung des Schlussbilds. Auch für Barrie Kosky, der die wenigen Buhs verschmitzt wegzwinkert. Tja, sagt sein Blick, ging nicht anders.
Naja: anders schon.
Aber nicht viel besser.