Die Meistersinger: Endlich wieder ein Coup

Von Florian Zinnecker
Die Meistersinger von Nürnberg in der Inszenierung von Barrie Kosky bei den Bayreuther Festspielen 2017. Der dritte Aufzug im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Foto: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath Foto: red

Die Tür fliegt auf und Richard Wagner stürmt herein, an der Leine zwei stattliche Neufundländer; dazu tönen aus dem Graben in C-Dur die ersten Takte des Vorspiels. Wir befinden uns im Salon von Haus Wahnfried, es ist laut Einblendung der 13. August 1875, 12.45 Uhr am Mittag, Cosima hat Migräne, in einem der Sessel liegt Wagners Freund und Schwiegervater Franz Liszt, zu Gast ist außerdem der Kapellmeister Hermann Levi, späterer Dirigent der „Parsifal“-Uraufführung und mit Wagner in kontroverser Freundschaft verbunden. Und zur bekannten Musik entspinnt sich auf der Bühne ein kleines, übersichtliches, liebevoll mit Klischees spielendes, virtuos und musikalisch flink inszeniertes Kammerspiel. Das sind sie also, die neuen „Meistersinger“, denkt man sich und ahnt noch nicht, dass man sich täuscht. Denn Regisseur Barrie Kosky verwebt geschickt Richard Wagners Meistersinger mit der Biografie Richard Wagners.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Zunächst sieht man belustigt zu, wie Richard Wagner erst neue Schuhe auswickelt, dann Seidentücher und schließlich Parfums, wie er dann mit Levi sich über eine Partitur beugt, wie Liszt auf dem Flügel spielt, wie Wagner ihn korrigiert, wie aus dem Flügel – und also aus der Musik – die übrigen Figuren klettern, David, Walther von Stolzing, später die Handwerker, ganz so, als wären sie nicht real. Und natürlich sind sie nicht real, jedes Haar, jede Miene, jeder einzelne Ton entspringt der Vorstellungskraft Richard Wagners, und immer nur dann, wenn sich in einem Theater der Vorhang hebt, kann man sehen, wie diese Ideen Wirklichkeit werden – nur diesmal, durch den Kniff mit dem Flügel, ein bisschen bewusster als sonst. Ein Umstand, der beim ersten Hinsehen banal wirkt, der es aber ganz und gar nicht ist.

Und genau das ist sie, die eine der großen Ideen, die Barrie Koskys „Meistersinger“-Inszenierung ausmachen: zu zeigen, dass sich dieses Stück, vom ersten C-Dur-Akkord bis zum letzten um Richard Wagner dreht, dass es aus nichts als Wagner besteht, einschließlich der volkstümelnden Teile, und auch einschließlich der deutschtümelnden.

Umbau nach dem ersten Akt

 

Also ist Hans Sachs in Barrie Koskys Inszenierung Richard Wagner, Beckmesser ist Hermann Levi, der von Wagner gegängelte und, man muss es so sagen, ausgenutzte Musiker, der seinerseits großer Verehrer von Wagner und seiner Kunst war. So löst sich das Problem, das jeder „Meistersinger“-Regisseur hat, der sich nicht um die ins Werk verwobenen antisemitischen Klischees herumdrücken will, bei Kosky beinahe von selbst: Er muss Beckmesser nicht plump auf sein womögliches Judentum reduzieren, sondern holt den realen, in zahllosen Briefen belegten Konflikt zwischen Levi und Wagner auf die Bühne. So wird die Inszenierung der „Meistersinger“ in diesem Punkt - und nicht nur in diesem - auch eine Lektion über die „Meistersinger“, aber weil Kosky sein Handwerk versteht, schlägt sich das alles in einem kurzweiligen, spannenden und vor Einfällen strotzenden Bühnengeschehen nieder.

Videokritik zur Meistersinger-Premiere, Teil 1

 

Die Wagner-Levi-Analogie bleibt nicht die einzige an diesem Abend: Veit Pogner ist bei Kosky Franz Liszt, seine Tochter Eva, um deren Hand Beckmesser, Walther von Stolzing und letztlich auch Sachs konkurrieren, ist Cosima. Nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich eine im besten Sinn hübsche Idee. Die allein deshalb aufgeht, weil Kosky sowohl David als auch Stolzing zu Wagners Alter Egos macht. Walther von Stolzing, der mittellose Stürmer und Dränger, der von Liebe getrieben das Kunstwerk der Zukunft erschafft. Der Lehrbube David, der Walther in die Regeln der Singkunst einweist, aber auch nur ein verliebter Heißsporn ist. Und Sachs, der angesehene Handwerker und Poet, der altersweise und weitsichtig Stolzing zum Glück verhilft, indem er selbst verzichtet: Sie alle tragen Samtbarett, Schleife und Backenbart, jagen durch den nachgebauten Wahnfried-Salon und bestreiten dort beim Kaffeekranz das Probesingen. Eine fulminante Szene:

Wagner erklärt sich selbst die Regeln der Tabulatur, missachtet sie - und hält dann ein Plädoyer auf sich selbst. Besser lässt sich diese komplexe Künstlerpersönlichkeit nun wirklich nicht umreißen.

Und es ist nur ein Moment von unzähligen, in denen sich die Meisterschaft Koskys zeigt, mehrere ineinander verschachtelte Ideen packend und unterhaltsam auf die Bühne zu bringen.

Regisseur Barrie Kosky entspannt

 

Gute eineinhalb Stunden hält man Koskys „Meistersinger“ also für eine komödiantische Rekonstruktion der vermeintlich guten alten Wahnfried-Zeiten – am echten 13. August 1875, am Rande bemerkt, gab es tatsächlich ein großes Gartenfest in Wahnfried, mit den Mitwirkenden des ersten Rings, die gerade die ersten Proben hinter sich hatten (die aber, anders als Koskys Handwerksmeister, nicht als Allegorien des renaissancezeitlichen Nürnbergs mit Dürermähne im Pelzrock aus dem Flügel gestiegen sein dürften).

Nach den eineinhalb Stunden aber gelingt Kosky dann der Coup: In den letzten Takten des ersten Aufzugs verschwindet der Wahnfried-Salon auf die Hinterbühne - und gibt den Blick frei auf das Innere des Nürnberger Justizpalasts, Schauplatz der Nürnberger Prozesse. Kosky, und das ist nun die größte und raumgreifendste Idee dieser Inszenierung, stellt die „Meistersinger von Nürnberg“ an und für sich vor Gericht. Die Festwiese, der Wach-auf-Chor, der Wahn-Monolog, Sachs’ Schlussansprache: All dies findet im Gerichtssaal statt, mit den holzvertäfelten Saalwänden, den Bänken und den Flaggen der Siegermächte als der Kontext, vor dem - und nur vor dem - die Handlung heute gesehen werden kann. Das funktioniert in vielen Szenen besser und in manchen schlechter, das Schlussbild aber hat das Potenzial, eine Ikone zu werden: Richard Wagner, im Zeugenstand des leeren Nürnberger Schwurgerichtssaals, plädiert für die Ehre der deutschen Meister, dann dirigiert er den von hinten hereinfahrenden Chor nebst einem vom Chor wunderbar gemimten Orchester; bei den Schlussakkorden ist Wagner, mit dem Rücken zum Publikum, wieder allein.

Videokritik zur Meistersinger-Premiere, Teil 2

 

Natürlich funktioniert das nur in der größtmöglichen Brechung: aufwendigste Kostüme, entworfen von Klaus Bruns, die in einer Inszenierung der „Meistersinger“ zugleich ihre eigenen Klischees sind wie auch Zitate des Großteils der früheren Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierungen, die mit weit weniger Dimensionen als diese auskommen sollten. Und gewaltige, detailverliebte Bühnenbilder von Rebecca Ringst. Unter den vielen Stärken von Koskys Inszenierung ist dies vielleicht die größte: dass sie sich stets auf mehreren Zeit- und Abstraktionsebenen gleichzeitig bewegt. Auch am gefährlich nahe an der Plattheit vorbeischrammenden Ende des zweiten Aufzugs - als Beckmesser in der Prügelszene unter einem gigantischen Ballonkopf einer Judenkarikatur in NS-Schmähästhetik verschwindet, der aus dem Zeugenstand aufsteigt und dann in sich zusammensackt. Dieser Moment ist einer der wenigen dieses Abends, in denen Kosky doch berechenbar bleibt.

 

Auch musikalisch fliegt an diesem Abend vom ersten Moment an die Tür auf, und Richard Wagner stürmt herein. Man kann diese Musik so dirigieren, dass sie klingt wie eine der alten Butzenscheiben-Inszenierungen. „Sehr mäßig bewegt“ steht als Spielanweisung im ersten Takt des Vorspiels in den Noten, sehr mäßig bewegt ist hier aber gar nichts. Philippe Jordan entscheidet sich gegen diese angedickte Klangtradition - und für eine schlanke, unpathetische, entfettete Deutung. Jordans „Meistersinger“ wirken transparent und durchscheinend, mit deutlich hörbarem Willen zur Unterscheidbarkeit - aber ab und an immer wieder Momenten, die unentschieden wirken, manche sogar an der Grenze zur Unsicherheit. Zum Beispiel die großen Chorstellen in der Prügelszene – hier herrscht zwischen den verschachtelten Stimmen über etliche Takte hin schieres Chaos, das entweder perfekt und minutiös choreografiert ist - oder tatsächlich einfach unterläuft und dann gekonnt auf- und wieder eingefangen wurde. Ohnehin sitzen die Musiker des Festspielorchesters hörbar auf der Stuhlkante. Die Musiker sitzen hörbar auf der vordersten Stuhlkante, Walthers Preislied wird auch für das Orchester ein Bravourstück in Liedbegleitung.

Videokritik zur Meistersinger-Premiere: Teil 3

 

Was die Besetzung betrifft, ist diese Produktion ohnehin beinahe über jeden Zweifel erhaben. Für Michael Volle wird der Abend ein Triumph, er ist ein schlichtweg hervorragender Sachs -

immer textverständlich, aber doch verschwenderisch im Schusterlied, sowohl im Wahnmonolog als auch in der Schlussansprache eindringlich, nie übertrieben breitschultrig, und – in der umfangreichsten aller Wagner-Partien – ungefährdet bis zum Schluss. Das gilt in exakt gleichem Maß auch für Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, es ist eine Freude, den beiden zuzusehen, wie sich mit Haut und Haar in die Rollen werfen und so gekonnt an die Grenzen gehen, dass ihnen nicht anzumerken ist, wieviel Spielraum noch bliebe.

Klaus Florian Vogt hat als Stolzing die knabenhafte Klarheit früherer Zeiten abgelegt, das kleine Quentchen Rauheit und Charakter bekommt seiner Stimme wie auch der Figur sehr gut, die ansonsten neben Wagner allein deshalb nicht hervorsticht, weil seine Rolle auch im Kosky-Kosmos die erwartbarste Entwicklung durchmacht. Günther Groissböck ist ein souveräner, stimmschöner Veit Pogner, Wiebke Lehmkuhl überzeugt als Magdalene, ebenso wie Daniel Behle als David. Anne Schwanewilms kann nur in manchen Lagen das volle Farbspektrum ihrer Stimme ausschöpfen und muss sich für die teils spröden Spitzen ein paar schmerzhafte Buhs gefallen lassen.

Michael Volle glücklich nach der Aufführung

 

Diese „Meistersinger“ werden in die Deutungsgeschichte nicht nur deshalb eingehen, weil es sie mit diesem Regisseur in diesem Haus überhaupt gab. Sondern weil sie, wie zuletzt auch der „Parsifal“ von Stefan Herheim, die Rezeptions- mit der Aufführungsgeschichte verquicken und daraus eigene Ideen schöpfen. Und dies alles gekonnt und erkennbar auf die Bühne bringen. Wenn es immer noch der Anspruch der Festspiele ist, Maßstäbe zu setzen mit den hier aufgeführten Produktionen, dann ist das diesmal aufs Beste geglückt.

Der Jubel ist groß am Ende des Abends, nicht nur, aber wohl auch in der Nachwirkung des Schlussbilds. Auch für Barrie Kosky, der die wenigen Buhs verschmitzt wegzwinkert. Tja, sagt sein Blick, ging nicht anders.

Naja: anders schon.

Aber nicht viel besser.