Man lernt Stanišićs Großeltern kennen - besonders jene demente Großmutter, die ihre Erinnerungen verliert, während Stanišić die seinen gerade aufschreibt. Und die sind eng mit einem Verlust verbunden. Als 1991 der Krieg ausbricht, kennt Stanišić das Wort "Genozid" nur aus der Schule. Dort fiel es, wenn es um das Konzentrationslager Jasenovac ging. Jahrzehnte später ging es plötzlich um das Kosovo, um aktuelle Ereignisse, erinnert er sich. "Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach. Fahnen, jeder eine eigene, im Wind, und in den Köpfen die Frage: Was bist du?"
Stanišić braucht keine Zahlen, die das Leid beziffern, keine Schilderung von Gräuel. Wie der Krieg in das Private eindringt, Familien auseinanderreißt, Gesellschaften zerstört, zeigt der Autor zum Beispiel mit einer Auflistung scheinbar banaler Dinge: "Hier ist eine Liste von Dingen, die ich hatte."
Zu den Dingen, die er hatte, gehörten Bücher. 1991 entdeckt er ein neues Genre, bei dem der Leser über den Fortgang der Geschichte entscheiden darf. "Rufst Du: "Aus dem Weg, Höllengezücht, sonst schneid ich Dir die Adern durch!" - lies weiter auf Seite 312." Es ist der maximale Gegensatz zum eigenen Leben, das angesichts der Ereignisse im zerfallenden Jugoslawien dem eigenen Einfluss entgleitet. Auch in "Herkunft" darf der Leser am Ende mitentscheiden.
Und dann ist da die Erinnerung an den letzten Tanz der Eltern vor dem Krieg - oder daran, wie Roter Stern Belgrad 1991 den FC Bayern bezwang und später den Europapokal der Landesmeister im Fußball gewann: mit einer Mannschaft, in der quasi alle Gruppen des Vielvölkerstaats vertreten waren. "Der Jubel aus achtzigtausend Kehlen war ohrenbetäubend, war unheimlich. Heute könnte ich behaupten, darin hätten sich Wut entladen, Völkerhass, Existenzängste. Das stimmt aber nicht. All das würde sich später aus Waffen entladen. Das hier war nur eines: Jubel über ein wichtiges Tor."
1992 kommt die Familie in Deutschland an. Ein Zahnarzt, den Stanišić "Dr. Heimat" nennt, befreit den damals 15-Jährigen von Karies und lädt ihn mit seinem Großvater Muhamed zum Angeln am Neckar ein, als Stanišić von dessen Traurigkeit in Deutschland erzählt. Die Geschichten, die "Herkunft" erzählt, sind rührend, fesselnd - und voller Einsichten. Dass das, was wir Identität, Heimat oder Herkunft nennen, mehr ist als eine Ortsangabe - ein Konstrukt und vor allem zutiefst persönlich - ist nur eine davon.
Doch liefert Stanišić mit ihr einen wichtigen Debattenbeitrag, wenn nicht das Buch der Stunde: Es ist eine Botschaft von Relevanz in einer Zeit, in der die Themen Identität und Heimat wieder auf Wahlplakaten verhandelt werden.
Saša Stanišić: Herkunft, Luchterhand Verlag, München, 242 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-630-87473-9