Der Grüne Faden Das Stehaufmännchen

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BAYREUTH. Es gibt Menschen, die ein solcher Schicksalsschlag völlig aus der Bahn wirft. Siegfried Hahn ist nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt, doch unterkriegen lässt er sich nicht – als Schreiner, als Sportler, in der Freizeit.

 
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Und dann sagt Siegfried Hahn mit ruhiger Stimme diesen Satz: „Ich glaube schon, dass sich in meinem Leben bislang die guten und die schlechten Dinge mindestens die Waage halten.“ Ein bemerkenswerter Satz. Denn schließlich sitzt der 54-Jährige, den alle nur Siggi nennen, im Rollstuhl.

Der Tag, an dem die Waage für ihn erst mal deutlich ins Negative ausschlägt, ist der 2. September 2002. Hahn baut auf einem Grundstück seiner Eltern im Plankenfelser Ortsteil Schressendorf gerade seine fünf Jahre zuvor eröffnete kleine Schreinerei aus, die er Siggis Woodworking genannt hat. Und dann fällt er aus drei Metern Höhe rückwärts vom Gerüst.

„Da hinten in der Ecke war’s“, sagt Siggi Hahn und zeigt in die Richtung – mit einem Achselzucken. Aber dass er heute hier, auf 250 Quadratmetern zwischen Format-Kreissäge, Bandschleifmaschine und Bohrmaschinen seine Geschichte erzählen kann, zeigt eben auch, dass er sich nicht unterkriegen lassen will. Und es schafft, weiter seine kleine Ein-Mann-Firma zu schmeißen. Wenn auch alles etwas länger dauert und er hier und da Hilfe braucht. „Ich mache, was die anderen nicht machen. Das ist meine Nische.“

Auf Augenhöhe

Als er damals im Krankenhaus Hohe Warte in Bayreuth wieder aufwacht, kann er sich an den Unfall nicht erinnern – bis heute nicht. Was an den schweren Kopfverletzungen liegt, die er davonträgt. Die heilen relativ schnell aus. Doch seine Beine, die kann Siggi Hahn nicht mehr bewegen – er ist von der Hüfte abwärts gelähmt.

Und trotzdem überwiegt für ihn bis heute das Positive. „Anderen ergeht es viel schlimmer“, sagt er, denn: „Mein Oberkörper und meine Arme funktionieren ja. Da ist ganz viel möglich.“ Spricht’s, pumpt seinen Spezial-Rollstuhl mit zwei kräftigen Armbewegungen nach oben und quittiert die Überraschung im Blick des Reporters mit einem breiten Grinsen. Denn plötzlich steht er, mit Bein- und Brustgurt fixiert, als Sinnbild für ein Stehaufmännchen – und ist damit auf Augenhöhe.

Das ist ihm besonders wichtig. „Denn sonst ist man als Rollstuhlfahrer schnell ausgeschlossen aus der Welt der Fußgänger, wie wir Rollis die Gesunden nennen“, sagt Hahn.

Weshalb er auch gleich ein paar Tipps parat hat. Dass man sich setzen soll, wenn man mit einem Rollstuhlfahrer spricht – Augenhöhe. Dass man fragen soll, ob man helfen kann, aber nicht eingeschnappt sein soll, wenn der Rollstuhlfahrer es lieber selber machen will – Augenhöhe. Und dass man die mitleidigen Blicke lassen soll, denn die haben so gar nichts mit Augenhöhe zu tun. Zumal er sich selber „eher leicht auf der Seite der Fußgänger sieht“.

Dass er doch noch mal wird laufen können, diese Hoffnung hat Siggi Hahn nicht aufgegeben. Wenn nicht mit seiner eigenen Muskelkraft, dann vielleicht mit Maschinen, sogenannten Exo-Skeletten: „Da tut sich unheimlich viel.“

Was er bisher erreicht hat, das hat er neben seinem Willen unter anderem dem medizinischen Team in der Hohen Warte zu verdanken. „Wenn man mitmacht, dann wird man da ziemlich schnell wieder mobilisiert und vor allem auch motiviert“, sagt Siggi Hahn.

Keine Zeit für ein Loch

In ein Loch zu fallen, die Zeit habe er sowieso nicht gehabt. „Weil in der Firma ja Aufträge liefen, weil der Anbau fertig werden musste und weil ich dafür ja auch Geld aufgenommen hatte. Da habe ich schon nach zwei Wochen wieder angefangen, vom Krankenbett aus zu organisieren.“

Aufgefangen habe ihn seine Familie, seine Eltern vor allem, seine Tochter, sein Sohn, Lebensgefährtin Gabi sowie seine Schwester und sein Bruder. „Wie das Fangnetz eines Artisten. Man weiß, dass man sein Ding machen kann, und wenn mal was schiefgeht, wird man aufgefangen.“

Trotzdem: Lieferanten wollen ihr Geld sehen. Manche sofort, manche haben Verständnis und warten lange – bis zu zwei Jahre. „Mit denen habe ich natürlich heute noch guten Kontakt“, sagt der gebürtige Sachsendorfer.

Und dann kommt es doch, das tiefe Loch – 2010 nach zwei schweren Rückschlägen kurz hintereinander. Erst verliert Siggi Hahn einen langen Rechtsstreit mit der Berufsgenossenschaft um eine Rente, dann stirbt seine Mutter viel zu früh an Krebs. „Es hat lange gedauert, bis ich da wieder rausgekommen bin. Ich habe viel gehadert“, sagt der 54-Jährige, schluckt und atmet tief durch.

Geholfen hat ihm auch da die Familie. Und natürlich Freunde. Die Teamkollegen der Rollstuhl-Basketballer vom RSV Bayreuth zum Beispiel. Zu denen er auch über die Hohe Warte findet und mit denen er bis in die Regionalliga aufsteigt. Die Regel sind Fahrten nach Ulm, München, Rosenheim und sogar Salzburg. „Das ist jedes Mal ein ziemlicher organisatorischer Kraftakt“, sagt Hahn.

Voll akzeptiert

Doch die Gemeinschaft ist es ihm wert. Auch, weil sie zum Beispiel bei bürokratischen Dingen weiterhilft. „Wo kann man Anträge stellen, wo gibt es welche medizinischen Hilfen, was gibt’s Neues bei den Rollstühlen? So was halt.“ Es sei nicht immer leicht mit Krankenkassen oder Behörden, sagt Hahn und lobt im gleichen Atemzug das Integrationsamt beim Zentrum Bayern Familie und Soziales in Bayreuth, das sowohl den behindertengerechten Umbau seines VW-Busses als auch seinen Steh-Rollstuhl gefördert hat.

Den braucht er nicht nur für seine Arbeit, er setzt ihn auch bei einem seiner Hobbys ein. „Ich liebe Hardrock und gehe mit Kumpels und ehemaligen Kollegen gerne auf Konzerte von Coverbands“, erzählt Siggi Hahn, um dann grinsend fortzufahren: „Ich fahre dann mitten rein in die Menge und pumpe meinen Steh-Rollstuhl hoch. Das ist immer ein Spaß, wie die Leute dann schauen. Aber dann bin ich voll akzeptiert.“ Augenhöhe halt.

Dass im Herbst sein Vater nach langer Pflegebedürftigkeit gestorben ist, hat Siggi Hahn einen neuen Schlag versetzt. Aber er ist schon wieder auf dem Weg nach oben. Dank seines Umfelds, aber auch wegen solcher Mails, die er kurz vor Weihnachten bekommen hat. Da schreibt ein Ehepaar: „Nie wieder hatten wir einen so guten Schreiner.“

Sie hätten erst jetzt von seinem Unfall erfahren. Und ob sie einen älteren Zeitungsständer zum Aufhübschen bringen können. „Das ist doch Wahnsinn“, sagt Siggi Hahn sichtlich bewegt, und: „Arbeit, Familie, Freunde, die viele Hilfe und solcher Zuspruch haben mich immer wieder zu einem ganzen Menschen gemacht. Ich glaube schon, dass da irgendwo einer auf mich aufpasst.“

Und so schmiedet Siggi Hahn schon wieder Zukunftspläne. Nicht heute oder morgen, aber auf Sicht will er sich auf dem Grundstück in Schressendorf mit den vielen Obstbäumen ein barrierefreies Haus bauen. Damit die Waage auf die gute Seite ausschlägt.


Info: Siegfried Hahn gibt den Grünen Faden weiter an Michael Kaiser aus Plankenfels. „Weil er einem als Geopark-Ranger die Heimat näherbringt und weil er auch sonst ehrenamtlich engagiert ist, zum Beispiel in der Theatergruppe.“

Der Grüne Faden: Jeder Mensch hat eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Die Region Bayreuth hat rund 180.000 davon. Mit unserer Serie möchten wir die Schicksale hinter den vielen Gesichtern aufzeigen, die uns täglich begegnen. Ob auf dem Marktplatz oder beim Metzger. Jeder Porträtierte wird anschließend gebeten, den symbolischen Grünen Faden an jemanden weiterzureichen, dessen Geschichte auch einmal erzählt werden sollte. So zieht sich der Grüne Faden durch die Region.

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