Das kleine Einmaleins für Festspielnovizen

Gert-Dieter Meier
 Foto: red

Was ist anders an Bayreuth, worauf gilt es zu achten bei einem Besuch des Festspielhauses? Was hat das Festspielhaus gekostet, warum musizieren die Mitglieder des Bayreuther Festspielorchesters in kurzen Hosen? Das und vieles mehr lesen Sie in unserem Festspiel-Abc.

 
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A ... wie Auffahrt: So nennen die Bayreuther die Anreise der Prominenz. Nur die Wichtigsten der Wichtigen dürfen – exklusiv am Premierentag – oben, am Hügel, die letzte Rechtskurve nehmen und fast bis vors Königsportal fahren. Dort entsteigen dann den schweren Karossen Politiker, Wirtschaftsbosse und Showstars. Nur ab und an gelingt es einem 2 CV, sich einzureihen. Faustregel: Normalerweise beginnt eine Aufführung um 16 Uhr, die ersten bekannten Gesichter kommen selten vor 15 Uhr. Um die Zeit ist es freilich schon fast unmöglich, ein Plätzchen mit freier Sicht aufs Königsportal zu ergattern. Die Auffahrt-Profis kommen meist schon um 12 Uhr. Mit Klappstuhl, Regenschirm und Presssackbrötchen. Man weiß ja nie …

B ... wie Bühne: Selbst der größte Chor hat auf dieser Bühne Platz – sie misst 736 Quadratmeter, hat eine Spielfläche von 25 mal 25 Metern, eine Raumbreite von 32 Metern und eine Höhe von 25,90 Metern (bis zum Schnürboden). Auch nach unten geht in Bayreuth einiges – die Unterbühne ist maximal zehn Meter tief. Interessant: Pro Meter weist die Bühne ein Gefälle von 2,5 Prozent auf – nach vorne abfallend. Die Hinterbühne hat eine Fläche von 165 Quadratmetern.

... wie Blaue Mädchen: Nein, es handelt sich keinesfalls um Damen, die zu tief ins Glas geschaut haben. So heißen in Bayreuth vielmehr die Platzanweiserinnen. Die trugen früher blaue Kleidung. Daher der Name. Zwischenzeitlich kleiden sich die Damen in Einheitsgrau. Böse Zungen sprechen deshalb von Grauen Mäusen (sollte man den – übrigens ausnehmend höflichen und hilfsbereiten – Damen aber besser nicht zurufen!).

C... wie Chor: In Bayreuth wird eigentlich über alles gestritten – nur nicht über den Chor der Bayreuther Festspiele. Warum auch, es gibt nichts Schöneres als den Gesang dieses Ensembles. Wie beim Orchester auch singen in diesem Kollektiv des Wohlklangs ausschließlich Spitzenkräfte. Sie kommen aus der ganzen Welt und haben nur ein Ziel: individuell alles zu geben, damit das Kollektiv zur Zauberwaffe wird. Das gelingt eigentlich immer. Warum? Wohl auch deshalb, weil diese Künstler sich hervorragend verstehen, neben viel Arbeit auch viel Spaß miteinander haben in Bayreuth (es sind schon einige Ehen daraus entstanden!). Der Chordirektor und seine Assistenten dirigieren den Chor übrigens hinter der Bühne, von der Beleuchtungsbrücke aus. Sie tragen Kopfhörer, die ihnen den Originalsound des Orchesters ins Ohr übertragen. Weil sich der Bühnenklang mit dem Klang des Orchesters erst auf der Bühne zu einem Gesamtklang vermengt, schlagen sie deutlich später als der Dirigent im Graben, den sie übrigens auch auf Monitoren sehen. Menschen mit einem gewissen Gefühl für den richtigen Takt wird ganz schwummrig, wenn man sieht, wie weit Chor- und Orchesterdirigent – scheinbar – auseinander sind. Sind sie aber natürlich nicht.

D... wie Dirigent: Alte Wagnerianer nennen sie demütig Maestros. Fast alle großen Namen waren schon im Graben aktiv: Richard Strauss, Toscanini, Knappertsbusch, Furtwängler, Karajan, Maazel, Karl Böhm, Boulez, Stein, Kleiber, Sir Colin Davies, Solti, Barenboim, Levine und natürlich Thielemann. Die Herren sind dort unten übrigens auch telefonisch erreichbar – freilich nicht über Handy, sondern, bei einem Notfall, über Hausleitung. Sie dirigieren fast immer underdressed. Weil sie aber, nach dem Stück, auf die Bühne müssen, ziehen sie sich unmittelbar nach dem ersten Applaus links neben der Bühne um. Deshalb, und weil sie furchtbar Durst haben nach einem langen Wagnerabend, dauert es meist etwas, bis sie, frisch gestylt, auf der Bühne die Huldigungen des Publikums entgegennehmen.

E... wie Essen: Hummer und Kaviar sind in Bayreuth aus, Kult sind die „Brodwärschd“ – Bratwürste also. Eingeklemmt in ein ordinäres Labla – eine Semmel also –, schmecken sie am besten. Dazu passt kongenial ein (Weiß-) Bier. Aber Vorsicht: Der Sempfd – der Senf also – macht sich furchtbar schlecht auf dem Smoking.

... wie Erlösung: Richard Wagner wollte irgendwie jeden erlösen: die Welt durch das Weib, den Mensch von Not, jeden von allem. Weshalb es im „Parsifal“ auch heißt: Erlösung dem Erlöser.

F ... wie Festspielhaus: Otto Brückwald (1841–1917) aus Leipzig war der Architekt des Festspielhauses, das zwischen 1872 und 1876 gebaut wurde. Die Gesamtkosten des Theaterbaus beliefen sich auf insgesamt 428 384,09 Mark. Der sogenannte Königsbau, vor dem die Festspielleitung bis heute die Prominenz empfängt, wurde erst 1882 fertiggestellt. Er bietet einen eigenen Aufgang zur separaten Königsloge. Warum viele auch von der „Scheune“ sprechen, erklärt sich durch die, sagen wir, puristische Bauweise: roter Ziegelstein und Beton, kaum Dekoratives. Im Festspielhaus dürfen – das steht in der Stiftungssatzung – ausschließlich die Werke Richard Wagners gespielt werden. Nur in absoluten Ausnahmefällen – Jubiläen, Trauerfeiern – werden andere Stücke, vorzugsweise Beethovens „Neunte Sinfonie“, aufgeführt.

G ... wie Garderobe: Was zieht man an in Bayreuth? Die Herren Smoking oder dunklen Anzug, die Damen gerne lange Kleider. Aber bitte: Keine wuchtigen Hüte – sonst sieht der Hintermann nichts. Inzwischen ist die Kleiderfrage aber fast nebensächlich. Seit einigen Jahren sind sogar Jeans in Bayreuth geduldet, wenn auch nicht erwünscht. Warum immer wieder Normalkleidungsträger, vorzugsweise im dritten Akt, zwischen den Feingewandeten sitzen? Weil einige wenige aus Protest, Langeweile oder Müdigkeit auch schon mal das Haus vorzeitig verlassen und ihre Karten an den Erstbesten vor der Tür verschenken.

... wie Gral: wundertätiges Gefäß (Schale, Kelch). Zusammen mit einer rätselhaften blutenden Lanze wird er in einer unzugänglichen Burg von Gralskönig und Gralsrittern bewacht. Er soll Glück, ewige Jugend und Speisen in unendlicher Fülle bieten. Deshalb: Alle suchen nach ihm.

H ... wie (Schwarz-)Handel: Es gibt in Bayreuth einen blühenden Schwarzmarkt, weil die Nachfrage die tatsächliche Zahl vorhandener Karten – im Festspielhaus finden 1974 Menschen Platz – bei weitem übersteigt. Wo man Schwarzmarktkarten bekommt? Man frage sich durch. Offizielle Rückgabekarten gibt es an vielen Aufführungstagen im Kartenbüro.

I... wie Festspielidee: Richard Wagner selbst erklärt sein Projekt in einem Schreiben an Theodor Uhlig (1850) wie folgt: „… hier, wo ich nun gerade bin und wo manches gar nicht so übel ist, würde ich auf einer schönen Wiese bei der Stadt von Brett und Balken ein rohes Theater nach meinem Plane herstellen und lediglich bloß mit der Ausstattung an Decorationen und Maschinerie versehen lassen, die zu der Aufführung des Siegfried nötig sind. Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf 6 Wochen nach Zürich einladen: den Chor würde ich mir größtenteils hier aus Freiwilligen zu bilden suchen [...] So würde ich mir auch mein Orchester zusammen laden. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle Freunde des musikalischen Dramas durch alle Zeitungen Deutschlands mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: wer sich anmeldet und zu diesem Zwecke nach Zürich reist, bekömmt gesichertes Entrée, – natürlich wie alles Entrée: gratis! [...] Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt. Den Leuten, denen die Sache gefallen hat, sage ich dann: ,Nun macht’s auch so!‘“

J... wie Jugendwerke: Auch Richard Wagner hat mal klein angefangen. Im Familienclan ist man sich aber schon früh einig geworden, dass seine Frühwerke bei den Festspielen nicht aufgeführt werden sollen. Als da wären: „Die Hochzeit“, „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“. Um so schöner, dass im Jahr des Wagner-Doppeljubiläums 2013 alle vier Werke erstmals binnen eines Jahres in Bayreuth zu sehen sind. Aber nicht im Festspielhaus, sondern in der Stadthalle.

K... wie Kurier – die Bayreuther Tageszeitung, die mehr und ausführlicher über die Bayreuther Festspiele berichtet als jedes andere Medium.

L ... wie Leitmotiv: „Das Leitmotiv bezeichnet im vulgär naturalistischen Sinn ... eine Tonfolge, die zur Symbolisierung von Personen oder Vorgängen dient“, schreibt Martin Gregor-Dellin im informativen, aber leider vergriffenen „Hermes Handlexikon Richard Wagner“. Man erkennt die handelnden Figuren an den ihnen zugeordneten Tonfolgen/Melodien.

M ... wie mystischer Abgrund: So nennen Insider gerne den verdeckten Orchestergraben. Der ist gut für den besonderen Bayreuther Klang, aber schlecht fürs Publikum – weil niemand dem Orchester auf die Finger schauen kann. Genau das wollte der alte Wagner aber – dass man sich auf die Bühne konzentriert, anstatt zu verfolgen, ob der Paukist seinen Einsatz verpasst. Netter Nebeneffekt für die Musiker: Sie können, weil niemand sie sieht, in kurzen Hosen, T-Shirts und Sandalen spielen.

N ... wie Nibelungen: Das ist das unterirdische Geschlecht der Nibelungen, Wohnort: Nibelheim. Das nach ihnen benannte Werk ist der „Ring des Nibelungen“, das wohl größte Werk der Musikgeschichte. In Bayreuth werden die vier Teile dieser Tetralogie immer am Stück aufgeführt (mit zwei spielfreien Tagen dazwischen). Wer also Karten für den „Ring“ erwirbt, muss vier Opern besuchen – und bezahlen.

O... wie Orchester: Knapp 190 Orchestermusiker von vielen deutschen und internationalen Top-Orchestern spielen im Bayreuther Orchestergraben, der auch mystischer Abgrund genannt wird. Wie man ins Orchester kommt? Nur über die Empfehlung des jeweiligen Registers. Besonderheit: Weil die Bayreuther Festspiele inklusive Probenzeit rund sechs Wochen dauern, nehmen die meisten Orchestermusiker während dieser Zeit Urlaub von ihren Heimatorchestern. Viele müssen auch, ist kein Urlaub mehr vorhanden, vom Bayreuther Salär ihre Heim-Aushilfen bezahlen.

P ... wie Pausen: Sie dauern in Bayreuth traditionell eine Stunde. Wer also das Pech hat, eine besonders lange Vorstellung zu ergattern – beispielsweise die „Götterdämmerung“ –, der muss für einen solchen Festspielbesuch viel Zeit mitbringen. Beginn: 16 Uhr. Ende, je nach Dirigent, weit nach 23 Uhr. An- und Abfahrt nicht mitgerechnet. Ganz wichtig: Man komme in Bayreuth niemals zu spät! Denn wenn es erst einmal losgegangen ist, kommt keiner mehr rein. Besonders ärgerlich ist das bei den „Kurzopern“ ohne Pause, also bei „Rheingold“ und „Holländer“.

... wie Preise: Anders als weithin verbreitet, sind die Bayreuther Festspiele keine Veranstaltung nur für den Geldadel. Die günstigsten Karten gibt es schon für acht(!) Euro – allerdings sind das Hörplätze (wobei viele Altwagnerianer bei modernen Inszenierungen ohnehin die Augen zumachen), die teuerste Karte kostet 280 Euro (Reihe 1 bis 6).

Q ... wie Qualen: Wer Oper in Bayreuth erleben will, muss dafür leiden. Nirgendwo sonst in der Welt findet man ein unbequemeres Gestühl vor! Bayreuth, das ist eng, hart, Holzklasse. Warum? Weil dicke Polster in dem hölzernen Auditorium die Akustik beinträchtigen würden. Wie gut die Akustik ist, merkt man übrigens am besten, wenn jemandem an einer Pianissimostelle eine Taschenlampe aus der Tasche fällt. Die rollt und rollt …

R ... wie Rituale: So ist es bis heute im Festspielhaus verpönt, nach dem ersten Akt „Parsifal“ (Abendmahlszene) zu klatschen. Dabei hatte Wagner selbst nichts gegen Beifall bei „Parsifal“-Aufführungen. Er selbst wurde, als er seinen „Blumenmädchen“ während der Aufführung Beifall klatschte, ausgezischt.

S ... wie Spielzeit: Jede Saison beginnt am 25. Juli und endet am 28 August. Immer werden 30 Vorstellungen gegeben. Gespielt wird immer eine Auswahl aus folgenden Werken: „Fliegender Holländer“, „Tannhäuser“, „Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“, „Lohengrin“, „Parsifal“ und „Ring des Nibelungen“ .

... wie Staatsempfang: Findet, solange der Freistaat nicht den Geldhahn zudreht, im Garten des Neuen Schlosses statt – gleich nach der Premiere und der Abfahrt (Gegenteil zu Õ Auffahrt). Hier löschen Mitwirkende, Politiker, geladene Gäste und solche, die irgendwie immer reinkommen, ihren furchtbaren Wagnerdurst. Ein Must für alle Networker.

T ... wie Texte: Wagners Deutsch ist, vorsichtig gesagt, gewöhnungsbedürftig. Willentlich wogen Wagners wuchtige Worte durch die Opern. Profis lesen den Text zur Oper vor dem Besuch mal durch – weil man ihn auf der Bühne eh nicht versteht und es in Bayreuth keine Übertitel gibt.

...wie Tenöre: Das sind die beklagenswerten, aber gut bezahlten Sänger, die bei Wagner besonders hart gefordert sind. Sie müssen höher, lauter und länger singen als alle anderen. Ihr weibliches Pendant: die Sopranistinnen.

U ... wie Understatement: Wolfgang Wagner hat nichts mehr gehasst als jede Form von Starkult. Sein Leitspruch: Das Team ist der Star. Diesem Spirit mussten sich selbst Sänger wie Placido Domingo unterwerfen. Das Tolle: Sie taten und tun es gerne. Bayreuth neigte, zumal in der Ära Wolfgang Wagner, zum gepflegten fränkischen „Passd-scho“-Understatement. Man redete nicht, sondern machte – ein Horror für alle Marketingstrategen, die viel lieber reden als zu machen.

V... wie Viewing, public: Katharina Wagner hat das Public Viewing in Bayreuth salonfähig gemacht. Wagneropern sollen nicht mehr nur für teures Geld im Saale erlebbar sein, sondern umsonst und draußen – für alle. Seither werden bei der Siemens-Festspielnacht Opern live aus dem Festspielhaus auf den Volksfestplatz übertragen. Zigtausende schauen dort ihren Wagner im Klappstuhl. Termin heuer: 14. August, 16 Uhr: Gespielt wird der rattenscharfe „Lohengrin“ von Hans Neuenfels.

W ... wie Werktreue: Wie spielt man Wagner heute? Noch immer wie zu Richards Zeiten? Oder aus dem Heute heraus? Vor allem konservative Wagnerianer lechzen nach Werktreue – möge doch alles bleiben wie damals! Jüngere Regisseure fordern hingegen neue Sichtweisen, neue Lesarten, mehr Mut zur Auseinandersetzung. Und zitieren, quasi als Kronzeugen der Avantgarde, den Bayreuther Meister höchstpersönlich. Schließlich war es Richard Wagner, der postulierte: Kinder, macht Neues!

... wie Wahnfried: So nannte Richard Wagner sein Wohnhaus. An der Fassade steht: „Hier wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried – sei dieses Haus von mir benannt.“ Wagner hat das Haus nach dem hessischen Ort Wanfried bei Eschwege genannt, besagt eine Tagebuchnotiz Cosimas.

Foto: Lammel