Das Debakel von Seybothenreuth

Von Michael Weiser

Königgrätz ist berühmt, wer aber kennt die Petzelmühle? Bei Seybothenreuth erlebten  bayerische Soldaten vor 150 Jahren im Nachspiel des Krieges zwischen Preußen und Österreich eine schwarze Stunde, was Ludwig II. zu einer Frankentour veranlasste. Wie ein Debakel Bayern letztlich zusammenschweißte.

 
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In jedem Krieg gibt es einen letzten Toten. Einen, der fällt, wenn die Sache an sich schon entschieden ist, wenn es schon an der Zeit gewesen wäre, zu den Eltern, zur Frau, zu den Kindern zurückzukehren. Ein Tod, in dem die Sinnlosigkeit eines Krieges gipfelt. In Seybothenreuth ist eine Erinnerung an ein solches Finale geblieben. Ein Denkmal an eine Schlacht, ein Gefecht vielmehr, weil das Blutvergießen jenes Tages nicht entfernt reicht, die Kriterien der Historiker zu erfüllen. Aber: Es starben damals, vor 150 Jahren, nochmals junge Menschen. Es waren mit die Letzten in einem großen Krieg, der heute nur noch eine Fußnote der Geschichte ist.

 

Der deutsche Bruderkrieg von 1866

Die Vorgeschichte: Im deutschen Brüderkrieg gerieten Preußen und Österreich 1866 aneinander. Zuvor hatten die beiden gemeinsam Dänemark besiegt und sich Schleswig-Holsteins bemächtigt. Über die Verwaltung des Gewinns zerstritt man sich.

Preußens Kanzler Bismarck suchte ohnehin nach einem Anlass, um die Vielvölkermonarchie endgültig aus dem Staatengebilde zu stoßen, aus dem wenige Jahre später das zweite deutsche Reich werden sollte. Österreich aber, so viel war klar, würde nicht freiwillig gehen. Im Sommer 1866 stießen die Armeen der Großmächte bei Königgrätz aufeinander. Die Österreicher wurden umzingelt, von den aus allen Richtungen anmarschierenden Preußen. Getrennt marschieren, vereint schlagen. So lautete die Strategie des preußischen Heerführers Moltke. Seine Soldaten marschierten allerdings gar nicht mal so viel: Die ungeheuren Truppenmassen von 200 000 Mann wurden mit der Eisenbahn in die Nähe des Geschehens gebracht. Mit Hilfe der Telegraphie koordinierte der preußische Generalstab - auch das eine Neuerung - die Korps und Divisionen.

Überhaupt, die Technik: So schnell schießen die Preußen nicht, hieß es, seit Friedrich II. seine Soldaten nicht mehr wegen jeder Lappalie an die Wand stellen ließ. Davon gingen, gut hundert Jahre später, manche Offiziere des Habsburger-Heeres noch immer aus: Sie konnten sich nicht vorstellen, wie viele Kugeln die Preußen tatsächlich aus den Läufen ihrer modernen Hinterladergewehre jagen konnten. Als „fürchterlich“ beschrieb die Wirkung des Schnellfeuers ein preußischer Offizier, der noch von sich reden machen sollte: Paul von Hindenburg.

Die Bayern, mit Österreich verbündet und bei Königgrätz noch davongekommen, sollten ebenfalls mit der überwältigenden preußischen Feuerkraft Bekanntschaft machen: am 29. Juli 1866, bei Seybothenreuth.

Ein erstes Gefecht bei der Petzelmühle

Ein Sonntag, morgens um halb neun. Das Wetter ist kühl und regnerisch, doch der Besitzer der Petzelmühe will auf seinen Kirchgang nicht verzichten. Johann Maisel rüstet zum Aufbruch, die Kinder sind schon mal rausgelaufen. Kurz darauf eilen sie zurück. Sie rufen durcheinander: „Soldaten kommen, Soldaten kommen!“ Maisel verriegelt das Tor. Und da erscheinen sie schon, bayerische Soldaten, panisch, in wilder Hast stürzen sie auf seinen Hof, suchen Deckung, eilen weiter, ein paar hundert Meter weiter fassen sie sich, bilden ein Karree, um sich ihrem Feind zu stellen: preußische Dragoner. Die Reiter brauchen nicht lange, um mit Säbelhieben die unerfahrenen Bayern auseinanderzutreiben. Ein paar Verwundete bleiben liegen, winden sich auf dem Feld. Bayern. Die Preußen haben keine Verluste. Ist der Spuk vorbei? Schwer zu sagen, die Lage ist unübersichtlich. Warum soll überhaupt Krieg sein? Sicher, die Bayern haben sich aufs kriegserfahrene Heer der Habsburger verlassen und damit aufs falsche Pferd gesetzt. Aber mit Königgrätz, erst recht mit der Niederlage der Bayern bei Uettingen am 25. und 26. Juli hat sich die Angelegenheit erledigt, oder? Preußen hat gewonnen, gut, lasst uns zur Arbeit zurückkehren.

Ein Irrtum.

 

Bayern ohne Plan

Wie die Truppenteile sich in jenen Tagen bewegten, wäre sogar nachzuvollziehen. Emsige Lokalhistoriker wie Wilhelm Gollwitzer rekonstruierten das Geschehen. Es ist aber so wirr, dass wir mehrere Zeitungsseiten bräuchten, um es nachzuzeichnen. Mehr Sinn gewönne dieses Nachspiel dadurch nicht. Machen wir’s also kurz.

Vor allem die Bayern sind ziemlich ohne Plan unterwegs. Die Preußen kennen offenbar wenigstens die Zugfahrpläne. Am 23. Juli gelangt die preußische Vorhut per Eisenbahn nach Hof. Die Truppen stoßen nach Bayreuth vor, ziehen große Verstärkungen nach. Die Bayern erhalten derweil eine verwirrende Depesche. Waffenstillstand, heißt es darin, für fünf Tage, rückt vor, deckt so viel Land wie möglich. Es ist der 28. Juli, es ist tatsächlich ein Waffenstillstand ausgehandelt worden. Doch der gilt erst ab 2. August. Sollte die Botschaft ursprünglich lauten: in fünf Tagen? Anstatt für fünf Tage?

Die Bayern reisen auch per Eisenbahn. Ihr Ziel ist Bayreuth, sie gelangen aber nicht dorthin. Denn ein Bahnwärter hält den Zug auf offener Strecke an. Mit einer roten Fahne in der Hand und einer beunruhigenden Nachricht: Die Preußen seien schon da und hätten weiter vorn bereits die Gleise aus dem Schotterbett gerissen.

Waffenstillstand an der Dürschnitz

Was tun? Die Soldaten, sie gehören zum 4. Bataillon des Königlich-bayerischen Intfanterie-Leibregiments, steigen aus dem Zug und sehen sich an der Dürschnitz tatsächlich den Preußen gegenüber. Es ist Samstag, 28. Juli. Man verständigt sich, auf sieben Stunden sollen die Waffen schweigen. Man belauert, misstraut einander. Aber immerhin feuert niemand. Dort, wo in Bayreuth heute die Richard-Wagner-Straße auf die Cosima-Wagner-Straße trifft, ist Frontlinie. Ruhig, für einige Stunden lang, es könnte doch so bleiben. Die Bayreuther polieren derweil ihre hohenzollerischen Wappen, zeigen sich erfreut ob er Disziplin der Preußen. Fast wie ein Besuch von Verwandten...

Dann, am Abend, geben die Preußen den Bayern Bescheid: Waffenstillstand war mal, in einer Stunde ist wieder Krieg. Die Bayern, Hunderte von Soldaten, zielen los, noch ohne rechte Ahnung, wo der Feind sich noch befinden könnte, beeinträchtigt durch widersprüchliche Befehle, müde nach mehreren Biwaks bei grottigem Wetter. Eine Kompanie, es ist die 13., gerät am nächsten Tag in das Scharmützel bei der Petzelmühle. Die anderen marschieren von Weidenberg aus in Richtung Seybothenreuth, um den Zug in Richtung Kemnath zu erwischen. Am Goldhügel bei Seybothenreuth treffen sie erneut auf die Preußen. Die anderen sind mehr, sie sind besser ausgebildet und motiviert, sie haben bessere Waffen, sind dank  Telegrafie besser aufeinander abgestimmt. Sogar Artillerie bieten sie auf. Eineinhalb Stunden werden sie von zwei Seiten beschossen und attackiert, dann sind sie geschlagen, die Bayern.

Mit zwei, dreihundert Soldaten, setzt sich der kommandierende Major Graf Joseph von Joner nach Creußen ab. Er ist verwundet. Der Rest seines Bataillons wird gefangen, flieht, ist seinerseits blessiert. Oder tot: drei Bayern sterben im Kampf, zwei weitere erliegen später im Lazarett ihren Verletzungen. Die Preußen verzeichnen keine Toten, aber über ein Dutzend Verwundete, deren Aussichten im Lazarett unsicher genug waren.

Der Niederlage folgt der Triumphzug eines jungen Königs

Kurze Zeit darauf ist Friede. Doch es herrscht Misstrauen, zwischen Preußen und Bayern, zwischen Bayern und Bayreuthern. Die Menschen in Altbaiern sind sauer auf die Franken. Die ehemals hohenzollerischen Bayreuther hätten sich den Preußen allzu bereitwillig angedient, heißt es, von Niedertracht und Verrat ist die Rede.

Andererseits kann man den Franken die schlechte Stimmung kaum verdenken. Erst ein halbes Jahrhundert zuvor, noch unter Napoleon, waren die Gebiete des altehrwürdigen Franken im jungen Königreich Bayern aufgegangen. Und ausgerechnet Franken war vom Krieg an der Seite Österreichs am meisten in Mitleidenschaft gezogen worden.

Wagner drängt den König

Der König der Bayern war kurz vor Ausbruch des Krieges in die Schweiz gereist, inkognito, zu seinem Idol. Zu Richard Wagner also, der kurz zuvor vom Landtag und der öffentlichen Meinung aus München vertrieben worden war. Der Komponist redete ihm aber zu, dass des Königs Platz nunmehr wohl an der Seite seines Volkes sein müsse.

Nach der Niederlage gibt Wagner seinem Gönner erneut einen dringenden Rat. Ludwig müsse sein Volk versöhnen. Also reist er im November 1866 nach Franken, der schöne junge König, und seine Tour durch Franken wird zum Triumph. Die Bayreuther jubeln ihrem Herrscher zu, sehen es auf einmal als Zeichen, dass der Monarch am selben Wochentag eingetroffen sei wie die Preußen ein paar Monate zuvor: an einem Samstag. Bayreuth ist nun wirklich bayerisch geworden und ist es, irgendwie, mehr oder weniger, bis heute geblieben.

Auf dem Goldhügel bei Seybothenreuth steht heute noch ein Denkmal. Für die vielleicht letzten Toten eines fast schon vergessenen Krieges.

 

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