Viele Menschen wollen nicht in die Zukunft schauen
Eine kanadische Studie ergab, dass jeder zehnte Erwachsene mit einer Familienvorgeschichte für die Huntington-Krankheit auf den Linkage-Test verzichtet, der diese Erbkrankheit vorhersagt. Ebenso will jeder fünfte Erwachsenen in Malawi das Ergebnis eines HIV-Testergebnisses nicht wissen, selbst wenn Geld dafür bezahlt wird. Das erscheint paradox, unterliegt jedoch einer Logik.
Wie diese aussieht, hat Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin untersucht. Für seine Studie, die in der amerikanischen Fachzeitschrift „Psychological Review“ im Jahr 2017 erschien, hat der Forscher mehr als tausend Erwachsene in persönlichen Interviews gefragt: Würden Sie heute wissen wollen, wann ihr Partner stirbt? Das Ergebnis: Zwischen 86 und 90 Prozent der Menschen gaben an, dies nicht wissen zu wollen. Dabei hätte das Wissen Vorteile, um die verbliebene Zeit besser zu nutzen, etwa weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.
Menschen wägen zwischen Wissen und Nicht-Wissen ab
Laut Gigerenzer entscheidet das Maß der antizipierten Reue darüber, ob wir etwas wissen wollen oder eben nicht. Reue überkommt Menschen, wenn sie sich für Option A entschieden haben, um dann herauszufinden, dass Option B besser gewesen wäre. Je folgenreicher und komplexer das Wissen, desto schwerer die Abwägung. Elternschaft ist so ein Beispiel: In der Umfrage von Gerd Gigerenzer gaben 38 Prozent der Männer ohne Kind an, dass sie im Falle einer Vaterschaft auf einen DNA-Test bestehen würden. Unter denjenigen, die bereits Kinder hatten, sagten jedoch nur vier Prozent, tatsächlich einen Test gemacht zu haben.
„Das Verhalten zeigt, dass die Männer eine Abwägung treffen“, sagt Gigerenzer. So könnte die Partnerin das Bestehen auf einen Vaterschaftstest als Vertrauensbruch interpretieren. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass der Test nicht wie erwünscht ausfällt. In diesem Fall hätte dies Auswirkungen auf das Verhältnis zur Frau und dem Kind.
Die Antworten werden verrechnet mit dem Nutzen, den das sichere Wissen um die Vaterschaft mit sich bringt. Überwiegt der Nutzen, wollen die Betroffenen einen Vaterschaftstest machen. Dominieren die Kosten, entscheiden sie sich gegen den Test.
Das Alter spielt eine entscheidende Rolle
Liebesaffären beispielsweise haben das Potenzial, ganze Familien zu sprengen, wenn die Wahrheit zutage tritt. Je älter die Menschen sind, desto weniger wollen sie aber von Untreue erfahren und meiden brisantes Wissen. Diesen Zusammenhang hat Ralph Hertwig, Psychologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin mit Kollegen in einer Studie herausgefunden, die 2021 im Fachblatt „Psychology and Aging“ erschien. Mit dem Alter verschieben sich also die Prioritäten. Laut der sozioemotionalen Selektivitätstheorie tendieren junge Menschen dazu, zukunftsorientierte Ziele anzuvisieren. Ältere Menschen hingegen bevorzugen auf die Gegenwart gerichtete Ziele, wie zum Beispiel psychisches Wohlergehen.
Es könnte also auch als Zeichen emotionaler Reife gewertet werden, bestimmte Informationen nicht verarbeiten zu wollen. „Die Vorstellung, dass ein brennender Instinkt der Neugierde uns in jeder Lebenssituation antreibt – dieser Topos des unstillbaren Wissensdursts – ist jedenfalls falsch“, so Hertwig. Das Verhältnis zwischen Wissen-Wollen und Nicht-Wissen-Wollen sei wesentlich komplexer. Und Letzteres hat für die Betroffenen eben auch manchmal Vorteile.
Wissen oder Nicht-Wissen – wer bevorzugt was?
Emotionen
Antizipierte Reue bedeutet, das emotionale Best-Case-Szenario vom Worst-Case-Szenario abzuziehen. Bleiben gedanklich negative Emotionen, entscheiden sich die Betroffenen für das Nicht-Wissen. „Dies widerspricht allen Theorien“, sagt Gerd Gigerenzer. Normalerweise gehen Wissenschaftler davon aus, dass Menschen das Wissen dem Nicht-Wissen vorzögen.
Risiko
In seiner Untersuchung hat der Berliner Wissenschaftler Gerd Gigerenzer festgestellt, dass vor allem risikoscheue Menschen zum vorsätzlichen Ignorieren neigen. Auch Menschen, die Zusatzversicherungen – wie etwa eine Rechtsschutzversicherung – abschließen, neigen stärker zum vorsätzlichen Ignorieren. Denn eine Versicherung abzuschließen bedeutet, absehbare regelmäßige Kosten gegenüber unsicheren unabsehbaren Kosten vorzuziehen.