Bayreuther Stadtgespräch Soziologe erforscht: Wie wird weltweit an den Holocaust erinnert?

Weltweit wird am 27. Januar an den Holocaust erinnert. Foto: /Christian Charisius/dpa

Alejandro Baer ist Professor für Soziologie und Leiter des Zentrums für Holocaust und Genozid Forschung an der Universität von Minnesota. In Bayreuth sprach er im Iwalewahaus über „Holocaust und Erinnerungskultur(en) im internationalen Kontext“.

 
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„Helft Schreiben die Geschichte vom Letzten Churbn.“ Dieser Aufruf auf Jiddisch stand im Jahr 1946 auf einem Plakat für Displaced Persons im Raum München. „Churbn“ ist ein hebräisches Wort und steht für Verwüstung, Vernichtung und vom Menschen gemachte Katastrophen.

Damit begann Alejandro Baer seine Rede über das Erinnern beim historischen Bayreuther Stadtgespräch im Iwalewahaus (siehe Interview). Für die Juden sind nach seinen Worten die Nazi-Verbrechen der »letzte Churbn“– die letzte Katastrophe. Das Ereignis wurde „Teil des jüdischen kollektiven Gedächtnisses“. Baer untersucht nun die Frage, ob es eine gruppen- und länderübergreifende Erinnerungskultur gibt, die gemeinschaftsstiftende Funktionen und Wirkungen hat.

Der Holocaust als „Ausdruck des Bösen“

Weltweit wird am 27. Januar der Holocaust Erinnerungstag begangen. Der Professor für Soziologie erinnerte an die Befreiung der Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Der Gedenktag werde mittlerweile in 44 Ländern zelebriert, so Baer. „Tatsächlich dehnte sich die Erinnerung an den von Nazideutschland begangenen Völkermord über die unmittelbar betroffenen Gruppen hinaus. In Museen, Gedenkstätten und Gedenkfeiern wird das nationalsozialistische Vernichtungsprojekt des Holocaust als paradigmatischer Ausdruck des Bösen dargestellt.“ Somit existiere ein „transnationales kosmopolitisches Gedächtnis“ in Bezug auf den Holocaust.

Projektionsfläche für gewaltbelastete Vergangenheit

Auch die Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner, der Putsch in Buenos Aires 1976 und Stolpersteine in Argentinien und Spanien zeigten, dass auch nichtbetroffene Gruppen den Holocaust erinnern, um damit eigene Traumata zu bewältigen. „Die Holocausterinnerung kann zur Projektionsfläche für die Deutung der eigenen gewaltbelasteten Vergangenheit werden“, sagte Baer. So habe der Stammesälteste der Dakota, in einem Reservat im Osten von Minnesota, festgestellt: „Ramsey war unser Hitler.“ Alexander Ramsey war der erste Gouverneur von Minnesota und verantwortlich für die Vertreibung der indigenen Bevölkerung.

Erinnerungskonflikte über Einzigartigkeit der Shoa

In Spanien führe der Bezug auf die Singularität der Shoa „zu einer leeren und selbstgefälligen Erinnerungspolitik“. Eine kritische Aufarbeitung der Franco-Diktatur werde damit ausgeblendet. In der Türkei werde nur dann von Völkermord gesprochen, wenn ein Ereignis mit der Massenvernichtung der Juden gleichzusetzen sei. Somit könne in der Türkei offiziell des Holocausts gedacht und zugleich der Völkermord an den Armeniern geleugnet werden. Die Beispiele zeigten, dass Holocaust-Gedenkzeremonien und die Frage der Einzigartigkeit des Holocaust die Schnittstelle von Erinnerungskonflikten bilden, stellte der Soziologe fest.

„Denkmäler, Gedenkstätten, Museen, Gedenktage und Gedenkfeiern sind beständige Elemente der sogenannten Holocaust-Erinnerungskultur in Deutschland.“ International werde dies als vorbildhaft angesehen. Aber in Deutschland selbst werde über Widersprüche und Leerstellen der Erinnerungskultur diskutiert. „Dabei rücken Fragen der historischer Schuld und Verantwortung der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust sowie der nationalen Identitätsbildung in einer demografisch sich durch Migration stark transformierenden Gesellschaft in den Vordergrund“, sagte Baer.

Holocaust und Kolonialgeschichte

In Deutschland drehe sich die Debatte verstärkt um die eigene Kolonialgeschichte. Zum Beispiel um den Genozid der deutschen Militärs an den Nama und Herrero in Deutsch-Westafrika, heute Namibia. Ein europäischer Herrschaftsstil sei importiert worden, der die ursprünglichen Bewohner durch Siedler ersetzte. Gleiches könnte Israel vorgehalten werden, das zugleich eine Sicherheitsgarantie für Juden abgibt, die ihnen in Europa genommen worden sei. Eine andere Erinnerungskultur macht Baer in Osteuropa aus. Hier konkurriere das Holocaust-Gedenken mit der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen des Kommunismus.

Ukraine-Krieg fordere ein Umdenken

Der Ukraine-Krieg habe neue Bewegung in die Debatte gebracht. Da die Erinnerung an den Holocaust von ukrainischer Seite mit dem Kampf gegen den Nazifaschismus auf europäischem Boden verbunden werde. Das Lied „Bella Ciao“, das populäre italienische Volkslied und Hymne des antifaschistischen Widerstands, werde gegen den russischen Aggressor angestimmt. Sowohl russische als auch ukrainische Kämpfer verwendeten den Slogan der belagerten Spanische Republik „No Pasarán“

Daher sei die öffentliche Erinnerung neu zu überdenken. „Gedenken kann handeln ersetzen, anstatt es anzuregen, es kann von der Vergangenheit distanzieren anstatt ihre Unmittelbarkeit zu bewahren.“ Der Ukraine-Krieg zwinge dazu, das „Nie wieder!“ auf die Gegenwart zu beziehen. Daher werde sich zeigen, ob die Demokratien widerstandsfähig und wehrhaft gegenüber präsenten Bedrohungen bleiben. „Wie wir gemeinsam, und nicht gegeneinander oder aneinander vorbei, erinnern, wird in dieser Frage zentral sein.“

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