Bayreuther Helfer in Peru Pandemie trifft die Ärmsten indirekt

Von Selmar Schülein

BAYREUTH/TALAVERA. Ausgangssperre mit drei Generationen in einer Lehmhütte – ein Bayreuther Entwicklungshelfer berichtet von fatalen Folgen der notwendigen Corona-Maßnahmen in Peru.

 
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Die Wege in den peruanischen Hochanden rund um Talavera sind derzeit kaum noch passierbar, geschweige denn befahrbar. In zahlreichen Orten haben Einheimische Brücken abgebrannt und riesige Löcher in die Straßen gegraben. Zusätzlich zu den Verkehrsblockaden durch Panzer und schwer bewaffnetes Militär versuchen sie, sich so zu schützen. Vor dem unsichtbaren Coronavirus, das für viele so schwer greifbar ist, das aber zum landesweiten Arbeitsverbot und der strengsten Ausgangssperre in Südamerika geführt hat.

Semesterferien für Hilfsprojekt investiert

Hierhin fliegt Philipp Trenz, Informatikstudent aus Bayreuth, jährlich, um das Hilfsprojekt casayohana zu unterstützen. Eigentlich würde der 26-Jährige seit sechs Wochen mit ehrenamtlichen Helfern aus Europa auf der Baustelle arbeiten, Sicherheitssysteme installieren, für eine stabile Internetverbindung sorgen. Im Laufe des Jahres wäre so auf 3000 Metern über dem Meeresspiegel ein Schutzraum für Frauen entstanden, die vor häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch fliehen mussten. Stattdessen haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus das Projekt vorerst unmöglich gemacht.

Trenz, der in Creußen aufgewachsen ist und am Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium das Abitur absolvierte, investiert erneut seine gesamten Semesterferien für das Hilfsprojekt, dessen Leiterin Sabine Vogel er bereits aus Jugendjahren kennt. Er schildert die sich verschärfenden und neu entstehenden Notlagen in der Region Apurimac, einer der ärmsten Gegenden des Landes.

Durch die strikte Quarantäne-Verordnung verlören manche Menschen die Chance, sich zu versorgen. Ähnlich zeichnen Hilfsorganisationen rund um den Globus schlimmste Szenarien, die in einzelnen Ländern bereits in vollem Gange sind und kaum noch abwendbar scheinen.

Kein Schulessen mehr

Lockdowns, Ausgangssperren und Arbeitsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus könnten bald Millionen der ärmsten Menschen jegliche Lebensgrundlage entziehen. Der jüngste Bericht von Oxfam spricht von zusätzlichen 434 Millionen Menschen, die unter die Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag rutschen könnten. „Mehr als 300 Millionen Kinder bekommen wegen der Schulschließungen kein Schulessen mehr“, sagt Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt. Für viele sei dies die einzige Mahlzeit des Tages.

Laut Trenz ist die Akzeptanz für die Schutzmaßnahmen im peruanischen Hochland trotz der verheerenden Folgen sehr hoch. Das Gesundheitssystem vor Ort rechtfertige die drastischen Schritte: Knapp 700 Intensivbetten mit Beatmungsgeräten stehen den über 30 Millionen Menschen in Peru zur Verfügung.

Wobei intensivmedizinische Versorgung im Hochgebirge ohnehin ein Wunschtraum ist, der mit einer Irrfahrt quer durch die Großregion gleichzusetzen ist: Ohne die derzeitigen Straßenblockaden bräuchte man knapp fünf Stunden bis zum nächsten Krankenhaus, aktuell wäre sogar unklar, ob man überhaupt je ankommen würde. Und eine Arztpraxis sieht von innen nur, wer Geld hat.

Unruhen und Kriminalität

Die Angst vor habe teils schon zu Unruhen und Kriminalität geführt. So berichtet Sabine Vogel, Kinderkrankenschwester und Direktorin von casayohana, dass die Behausung eines Tagelöhners in Brand gesteckt wurde, um zu verhindern, dass er aus der Großstadt zurückkehrt, wo es im Zuge der Pandemie für Hunderttausende keine Arbeit mehr gibt. Es sind Menschen, die ohne Vertrag und Sozialversicherung in den Städten und Fabriken schuften.

Zwei Milliarden Menschen verdingen sich laut Oxfam im sogenannten informellen Sektor. Sie leben von der Hand in den Mund. Ohne Arbeit kein Essen. Zu Tausenden springen Sie nun auf Lastwagen auf, fliehen aus den Zentren, wo das Corona-Virus sich stark ausgebreitet hat, in die Provinzen zurück. Ähnliche Reaktionen wie in Peru beobachten Hilfsprojekte rund um den Globus. Etwa im nordindischen Jhansi, wo Menschen nach dem Wegfall ihrer Arbeit und gänzlich ohne Bargeld aus Verzweiflung hunderte von Kilometern zurück in ihre Herkunftsdörfer laufen.

Die Welthungerhilfe bezeichnete diese schlagartig aufgetretene Stadtflucht gar als „Exodus der Tagelöhner“.

Auf dem Land erwartet die Menschen jedoch dieselbe Ausweglosigkeit. Philipp Trenz schildert die Zustände in den peruanischen Gebirgsdörfern: „Bis zu zehn Personen samt Nutztieren müssen in einer Ein-Raum-Hütte ohne fließendes Wasser und Strom ausharren.“ Weniger ablenkende Geselligkeit, die manche Menschen der Ersten Welt während der Kontaktbeschränkungen fordern, als vielmehr steigende Gewalt ist zu erwarten in einem Land, in dem Frauen nicht für Quoten, sondern für ihr Leben auf die Straße gehen. Die Rate häuslicher Gewalt in der Region Apurimac führt die Liste des Landes an. Laut einer Studie, die von staatlicher Seite in Auftrag gegeben wurde, liegt sie bei 79 Prozent.

Bislang betreut casayohana vor allem Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Trotz der strikten Ausgangssperren versuchten die Helfer zunächst noch, im dunkelgrauen Bereich der Legalität über nicht ausgebaute Wege zu Familien zu gelangen, die dringend Hilfe benötigten.

Riesiges Gebiet

Das Gebiet ist riesig: Die Betroffenen – zum Großteil indigene Quechua – leben in bis zu 5000 Metern Höhe. Philipp Trenz hatte für sie zuletzt unzählige Hilfspakete mit Grundnahrungsmitteln und Medikamenten geschnürt, die möglichst für einen Monat reichen sollen. Krankenbesuche, Medikamententransporte, Essenslieferungen seien mittlerweile kaum noch durchführbar, ohne hohe Geld- und Gefängnisstrafen zu riskieren.

Wie sich die Lage für die Familien in den Hütten in den kommenden Wochen zuspitzen wird, hängt zentral von einer politischen Lösung ab, die deren Versorgung trotz des Ausgangs- und Arbeitsverbots gewährleisten kann und dies auch mit allen Konsequenzen wirklich will. Weltweit litten vor der Pandemie elf Prozent der Weltbevölkerung an Hunger. Bis sich die Corona-Maßnahmen auf neue Hungersnöte durchschlagen, dauere es nur einige Tage, so die Einschätzung von Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe: „Lockdowns und Sperren – das wissen wir aus Erfahrung – führen stets zu einer massiven Verschärfung der wirtschaftlichen Situation von Haushalten. Die Menschen stehen sofort ohne alles da. Sie können die Felder nicht mehr bewirtschaften, haben keine Arbeit mehr und ihnen fehlen Reserven.“

Schutzmaßnahmen werden zur Lebensbedrohung

Der Hunger, der dadurch aufkommt, weist damit eine neue Struktur auf in diesen Regionen. Es ist der Hunger derer, die sich bislang ausreichend selbst versorgen konnten, nun aber abgeschnitten sind. Von Einkommensmöglichkeiten, von Lebensmittelmärkten, teils sogar von Hilfsorganisationen, die die Opfer der Krise in der Krise noch gar nicht erfassen können. So werden die Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus – obgleich deren epidemiologische Berechtigung keineswegs in Frage zu stellen ist – zur Lebensbedrohung für Menschen, die bislang noch gar nicht auf fremde Hilfe angewiesen waren.

Eine Rechnung der Welthungerhilfe versucht das Ausmaß dieser Bedrohung zu beziffern: „Wir gehen davon aus, dass schon bei einem Prozent weniger Wirtschaftswachstum die Zahl der Armen und Hungernden um zwei Prozent steigt.“

Weltweit ist die Arbeit zahlreicher Hilfsprojekte zusätzlich noch durch die Abreise der ausländischen Helfer erschwert. Auch Philipp Trenz ist soeben mit einem von der Bundesregierung gecharterten Flug wieder zu Hause angekommen.

Um zum Flughafen zu gelangen, musste er sich zwei Tage in einer rechtlich beängstigenden Lage quer durchs Land bewegen. „Es ist schon ungewöhnlich, wenn Militärs mit Maschinengewehren durch die Straßen laufen und auch mal ein Panzer vorbeifährt. Dazu Gerüchte und Unstimmigkeiten rund um die Ausreise. „Bis zur Ankunft am Flughafen waren wir uns nicht sicher, ob wir je dort ankommen würden.“

Was für manch westlichen Touristen des Typs „Trophäensammler“ ein aufregendes Abenteuer wäre, das sich neben Bildern aus Machu Picchu gut in Instagram-Storys und reißerischen Erzählungen verwerten ließe, bedeutet für Trenz und seine Teamkollegen die Ungewissheit, ob und in welcher Verfassung sie die peruanischen Familien im kommenden Jahr antreffen werden.

Wie könnte eine globale Solidarität für die Ärmsten nun aussehen? Die Frage ist so alt wie überfordernd, eine entschlossene Antwort zu finden war aber nie so drängend wie jetzt.


Info: Das Hilfsprojekt casayohana wurde 2018 von drei Geschwistern aus Creußen ins Leben gerufen. Es schützt Frauen und Familien, hilft ihnen aus dem Umfeld häuslicher Gewalt heraus und ermöglicht therapeutische Angebote im Hochland von Peru.

Dazu gehören Hygiene- und Entwicklungsschulungen, Beziehungs- und Erziehungsberatung und Logo-, Physio- und Ergotherapie. Die kulturnahe, praktische und nachhaltige Hilfe ist eng abgestimmt mit einheimischen Behörden, Kirchen und NGOs.

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