Eine Ventilatorenfabrik ist kein schlechter Ort an einem Tag wie diesem, mit 37 Grad Außentemperatur. Selbst dann nicht, wenn sie nur Kulisse ist und auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses steht, dem wahrscheinlich berühmtesten unklimatisierten Theater der Welt, in dem nicht nur in diesem Sommer sonst überwiegend wirkmächtigere Bühnenbilder stehen als dieses, das nur aus ein paar Stahlträgern, Kartons und Planen besteht.

Schon der Gedanke an Wind hilft

Egal, es ist heiß, und deshalb fällt nicht mal ins Gewicht, dass die Ventilatoren in dieser Fabrikkulisse in erster Linie Symbolkraft haben sollen und sich nicht mal richtig drehen, im Zuschauerraum jedenfalls spürt man kein Lüftchen. Aber schon der Gedanke an Wind hilft. Und gerade heute, bei der schweißdurchtränkten Wiederaufnahmepremiere des „Fliegenden Holländers“, den Regisseur Jan Philipp Gloger weitenteils in der Ventilatorenfabrik ansiedelt, ist es nicht viel mehr als ein absurder Gedanke, dass einer der wesentlichen Einwände der Zuschauer gegen die Inszenierung von Anfang an lautete: zu kühl.

Kapitalismuskritik ohne Seefahrerromantik

Zum sechsten Mal steht Glogers „Holländer“-Inszenierung jetzt auf dem Spielplan, nach dem Festspielsommer verschwindet sie aus dem Fundus. Die Handlung ist bei ihm ein Stück Kapitalismuskritik ganz ohne die Seefahrerromantik, die in Stoff, Text und Noten eingewoben ist. Er erzählt ein Burnout-Märchen. Der Holländer und seine Mannschaft sind rastlose Handlungsreisende, Seefahrer Daland ist der Chef der besagten Ventilatorenfabrik: die Südwind-Werke. Seine Tochter Senta fügt sich nicht den genormten Abläufen und hilft dem Holländer, auszubrechen, am Ende, in den allerletzten Takten der Oper, wird sogar aus ihrem Doppelselbstmord noch Profit geschlagen.
 
Vor allem bei Bayreuth-Erstbesuchern erfreute sich dieser „Holländer“ stetiger Belliebtheit: die Bühnenästhetik modern, die Deutung mit viel angetäuschtem Tiefgang, der „Holländer“ als Oper sowieso recht kurz. Andere, vor allem Stammgäste, monierten die eindimensionale Deutung, die stärker nach Abschlussklasse Opernregie roch, als es dem Regisseur lieb sein konnte.

Gloger hat eine Idee und exerziert sie durch

Und sicher, ganz von der Hand weisen lässt sich der Vorwurf nicht. Aber als sich bei der Wiederaufnahmepremiere der Vorhang öffnet, wird klar, dass das der Produktion dann doch nicht gerecht wird, in zwei Aspekten.
 
Denn Jan Philipp Gloger macht einen Punkt. Während der Neo-Rauch-„Lohengrin“ nur aus schön bemalter Oberfläche besteht, Uwe Laufenberg den „Parsifal“ einmal auseinanderknotet und nicht mehr so recht zusammenbinden kann, Katharina Wagner den „Tristan“ einmal säuberlich von hinten nach vorne gegen den Strich bürstet, und Barrie Kosky die „Meistersinger“ hochvirtuos und wie ein ideelles Feuerwerk auf mehreren Deutungsebenen gleichzeitig in den Himmel steigen lässt, verlässt sich Gloger auf eine Idee und exerziert sie durch, solide und bescheiden, und nur weil Oper eine unbescheidene Kunstform ist, wirkt das ein wenig seltsam. Aber eben: es wirkt.

Leichtfüßiges Vergnügen mit Humor

Das ist der eine Aspekt, und der andere ist ein Kunststück. Denn in diesem „Holländer“ steckt, neben aller Tragik, eine saubere Ladung Humor. In vielen kleinen Momenten: dann, wenn der Steuermann mit seinem Chef in einem Ruderboot übernachten muss. Wenn dieser Chef, Daland, wenig später ein Tänzchen mit dem Rollkoffer aufs Parkett legt. Oder wenn Sentas Amme Mary bei deren Vortrag der „Holländer“-Ballade, um den herum die ganze Oper angeordnet ist, mehr und mehr die Contenance fahren lässt. Alles Szenen, deren Witz aus der Spielfreude des Ensembles entstehen (es gibt auch ein paar Momente, in denen Gloger erkennbar den Sängern aufgetragen hat, witzig zu sein; das funktioniert weit weniger gut). Und so wird die Oper, was Opern selten sind: ein leichtfüßiges Vergnügen.
 
Und überhaupt ist es gerade bei dieser Produktion eine Leistung für sich, dass sie es in die sechste Spielzeit geschafft hat. Nicht nur auf diesem Niveau (an dem das Ensemble vor diesem Festspielsommer erkennbar erheblich gearbeitet hat, vormals wirkte der „Holländer“ dann und wann durchaus ein wenig durchgenudelt, diesmal nicht), sondern überhaupt. Der Produktion ist alles passiert und begegnet, was auf dem Grünen Hügel so passieren kann: Umbesetzungen, Neudeutungen, der Sänger der Hauptrolle trat zurück, weil er zwar vielleicht kein Hakenkreuz, dafür aber verfassungsfeindliche Runen tätowiert hatte. Der Einspringer schlug sich wacker, aber eine perfekte Besetzung für den Holländer fand sich bis zum Schluss nicht.

So heiß, dass sich die Holzbläser verstimmten

Der erfahrenste Bayreuther Dirigent, Christian Thielemann, übergab den Taktstock nach fulminantem Eröffnungsjahr dem damals unerfahrensten Kollegen, Axel Kober, der sich über die Jahre von weitgehend spannungslosem Herunterspielen hin zu einer aufregenden, schlanken und wendigen Interpretation heranarbeitete - es wurde ein Abend, der gar nicht so klingt, wie man sich Wagner vorstellt, wenn man ihn nur als Klischee kennt. Sondern im Gegenteil: mit Lust an Kontrasten und Farben und noch größerer Lust auf Tempo, Musik wie ein Gemälde zum Anhören, und das alles, wie gesagt: bei so hohen Temperaturen, dass sich im Orchestergraben die Holzbläser verstimmten.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Jahr legte Gloger die Inszenierung nochmal auf die Werkbank und ersetzte das, was im ersten Jahr eine fröhlich-bunte Bastelwelt war, mit bedrückendem Schwarz. Das zog sich durch bis zum Schluss: Von nun an starb Senta nicht mehr durch eine Bastelschere, das wirkte auch innerhalb dieser sehr weltlichen Inszenierung zu profan, sondern immerhin durch eine stattliche Lanze.

Jetzt ist alles überstanden, am Ende, im letzten Jahr, laufen alle - erstmals oder nochmals - zur Hochform auf.

Jede Partie wurde im Lauf der Zeit mindestens einmal umbesetzt, das Ensemble dieses Jahres harmoniert überdurchschnittlich gut: Peter Rose als Daland und Rainer Trost als Steuermann spielen sich musikalisch, stimmlich und auch komödiantisch die Bälle zu, Christa Mayer schüttelte die Partie der Mary gekonnt aus dem Ärmel, Tomislav Muzek wird nach diesem Erik hoffentlich nicht sang- und klanglos wieder aus Bayreuth verschwinden, Greer Grimsley gibt dem Holländer - beinahe als erster Sänger in dieser Produktion - eine durch und durch nachtschwarze Färbung, wenn auch auf Kosten der Verständlichkeit, und dass Ricarda Merbeth insbesondere in der Ballade große Intonationsschwierigkeiten hat, ist sicher nur der Hitze geschuldet.

Schlimm ist es nur, wenn Gleichgültigkeit bleibt

Am Ende des Abends tritt, nach den lauthals bejubelten Sängern, dem zu Recht bejubelten Festspielchor und dem gleichfalls gefeierten Axel Kober, dann auch nochmals der Regisseur vor den Vorhang, verbeugt sich und geht. Die Reaktion der Zuschauer bleibt verhalten, manch einer im Parkett, so ist zu hören, hat ihn gar nicht erkannt. Macht nichts. Oper ist, so sehr sie auch nach Ewigkeit schielt, immer Gegenwart. Manchmal sieht sie ein wenig gestrig aus, an diesem Abend ist alles wieder mal ein bisschen heutiger, als es vielen Zuschauern lieb ist.
 
Aber man kann es nicht allen recht machen, das hat auch diese Produktion wieder einmal gezeigt. Vielleicht ist das nirgendwo so schwer wie hier, auf dem Grünen Hügel. Man kann es nur gut machen, oder nicht, und die wirklich schlimmen Resultate sind die, die den Leuten gleichgültig bleiben. Glogers Ventilatorenfabrik, in der nur heiße Luft verwirbelt wurde, macht dicht. Wer den nächsten „Holländer“ inszeniert und wann, ist noch offen. Sicher ist nur: Jetzt ist jemand anders dran. Die Frist ist um.


INFO: Weitere Vorstellungen am 3., 7., 12., 22. und 26. August