Arktische Elfenbeinstraße Jäger des weißen Goldes: Wikinger segelten bis in die Arktis

Annett Stein ()/Markus Brauer

Haarbürsten, Kreuze und Skulpturen: Im Mittelalter war Walross-Elfenbein in Europa heiß begehrt. Waghalsige Nordmänner nahmen dafür wohl riskante Reisen in arktische Gewässer in Kauf.

 
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Wikinger-Schiff vor der grönländischen Küste: Ab 985 siedelten die Nordmänner auf Grönland Gemälde des dänischen Malers Jens Erik Carl Rasmussen (1841-1893). Foto: © Historisch/Jens Erik Carl Rasmussen

Die Analyse von Gegenständen aus Walross-Elfenbein deutet darauf hin, dass mittelalterliche europäische Jäger weit hinein in arktische Gewässer segelten. Die grönländischen Wikinger-Nachfahren betrieben mit Inuit-Völkern zunächst sporadisch, später womöglich regelmäßig Handel, schließt ein Forscherteam im Fachjournal „Science Advances“.

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Grundlage für umfassende Netzwerke

Die frühen Handelsbeziehungen könnten eine Grundlage für spätere, umfassendere Netzwerke zwischen verschiedenen Kulturen und Regionen im arktischen Raum gewesen sein, vermuten die Forscher um Emily Ruiz-Puerta von den Universitäten in Kopenhagen und Groningen.

Zudem stelle die Begegnung zwischen europäischen Nordmännern und nordamerikanischen Ureinwohnern die erste Wiederverbindung der beiden großen Zweige nach der Ausbreitung des Menschen aus Afrika heraus im Pleistozän dar.

Walross-Elfenbein. Foto: dpa/Mikkel Høegh Post
Lagerstätte der grönländischen Wikinger für ihre Jagdbeute. Foto: dpa/Matthew Walsh

Grænlendingar unter Erik dem Roten

Die sogenannten Grænlendingar (isländisch für Grönländer) waren nordische Siedler, die sich ab dem Jahr 986 n. Chr. unter Führung von Erik dem Roten auf Grönland niederließen. Sie stammten von Island und hatten wikingische Vorfahren. Ihre Siedlungen bestanden rund 500 Jahre. Im 15. Jahrhundert wurden die Niederlassungen  aufgegeben.

Walross-Elfenbein war im mittelalterlichen Europa ein sehr begehrtes Handelsgut, wie es in der Studie heißt. Aus den Hauern der Tiere wurden Kunstschnitzereien und Verzierungen, aber auch edle Alltagsgegenstände wie Haarbürsten gefertigt. Die genauen Quellen für die Walross-Zähne seien aber bisher unklar gewesen, schreibt das Wissenschaftlerteam.

Nachgebautes Boot, wie es vermutlich von den Nordmännern auf Grönland für Walross-Elfenbein aus dem Nordwasser genutzt wurde (Roskilde Fjord, Dänemark). Foto: Greer Jarrett/dpa
Experiment zur Seefahrt der Nordmänner auf Grönland im Roskilde Fjord. Foto: dpa/Greer Jarrett

Segelreise auf der arktischen Elfenbeinstraße

Die neue Analyse zeigt nun, dass während der mittelalterlichen Warmzeit von etwa 950 bis 1250 n. Chr. nordische Siedler tief in die nordamerikanische Arktis gesegelt sein könnten, um Walrosse zu jagen. Grund war demnach, dass die ursprünglich genutzten regionalen Bestände etwa vor Norwegen und Island dezimiert wurden, teils bis zum Aussterben.

Um die mittelalterliche arktische Elfenbeinstraße zu rekonstruieren, ordneten die Forscher 31 kulturelle Stücke aus Walross-Hauern chronologisch und analysierten sie genetisch. Die Daten wurden mit DNA-Profilen von Atlantischen Walrossen (Odobenus rosmarus rosmarus) verglichen, von denen bekannt ist, dass sie in der Zeit zwischen 900 und 1500 n. Chr. in bestimmten Gebieten lebten.

Nordische Expansion von Wikingern in den Nordwestatlantik und indigene Gruppen Nordamerikas. Foto: dpa/Ruiz-Puerta et al./Sci. Adv. 10, eadq4127 (2024)

Große Nachfrage nach Walross-Elfenbein

Die Tiere hatten demnach in verschiedenen arktischen Jagdgebieten gelebt. Die Chronologie der Fundstücke weist laut dem Forscherteam darauf hin, dass die Elfenbeinjäger weiter im Norden nach Walrossen suchten, als die europäische Nachfrage nach Elfenbein zunahm und nicht mehr durch regionale Populationen gedeckt werden konnte.

Etwa die Hälfte der Stücke stammt demnach aus einer Nordwasser (grönländisch: Pikialasorsuaq) genannten Region in der kanadischen Arktis, einer offenen Wasserfläche in der Davisstraße weit im Norden und Westen von Grönland. Walrosse sind dort ebenso wie Ringelrobben und bestimmte Walarten ganzjährig anzutreffen.

Genutzte Walross-Artefakte aus dem Kanadischen Museum für Natur in Ottawa. Foto: dpa/Emily Ruiz-Puerta sampling at the Canadian Museum of Nature in Ottawa

Hohe Navigations- und Segelkunst

Witterungsbedingungen sowie der Stand der Seefahrerfähigkeiten und Bootstechnik hätten es den grönländischen Siedlern wohl möglich gemacht, diese weit entfernten Bestände selbst auszubeuten, nehmen die Forscher weiter an. Darauf weise auch die Tatsache hin, dass genutzte Zwischenlager für Walross-Häute und -Zähne weit von bekannten Inuit-Siedlungsgebieten jener Zeit entfernt lagen.

Mehr Handel mit Inuit habe es aber womöglich in der Spätphase der Grönland-Siedler gegeben, als sich die Klimabedingungen wieder verschlechterten. Zwischen dem frühen 12. und der Mitte des 14. Jahrhunderts hätten die Nordmänner auf Grönland jedenfalls praktisch ein Monopol auf Elfenbeinlieferungen nach Europa gehabt.

Erfolgreiche Händler, Siedler und Bauern

Mit ihren Drachenschiffen bereisten die Wikinger alle damals bekannten und unbekannten Meere. Sie dienten als Söldner am Hof des oströmischen Kaisers und bildeten die sogenannte Warägergarde. Sie errichteten auf Sizilien und in der Normandie Herrschaften, eroberten lange vor der Schlacht von Hastings zwischen Normannen und Angelsachsen im Jahr 1066 große Teile Englands. Sie besiedelten Island und Grönland. Ende des zehnten Jahrhunderts betrat Leif Eriksson als erster Europäer amerikanischen Boden – 500 Jahre vor Kolumbus. Bis nach Russland und in die arabischen Kalifate reichten die Handelswege der Wikinger.