Analyse Johnsons Europa-Tour und die konstruktive Mehrdeutigkeit

Vor schwierigen Gesprächen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (r.) empfängt den britischen Premier Boris Johnson im Elysee-Palast. Foto: Daniel Cole/AP Foto: dpa

Bei den Besuchen des britischen Premierministers Boris Johnson in Berlin und Paris zeigen sich alle Seiten willig, einen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse zu finden. Wenn es konkret wird, reden die Beteiligten aber aneinander vorbei. Mit Absicht?

 
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Paris/Berlin/London - Immer wieder tätschelte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Rücken von Boris Johnson, als die beiden gemeinsam die Stufen des Élysée-Palasts hinaufgingen.

Der Franzose war am Donnerstag sichtlich bemüht, eine herzliche Atmosphäre bei dem Besuch des neuen britischen Premierministers in Paris zu schaffen, nachdem Medien wegen der Brexit-Differenzen der beiden schon prophezeit hatten, die Gespräche würden bestimmt frostig und konfrontativ.

Schon am Vorabend war Johnson in Berlin mit militärischen Ehren empfangen worden - und bekannte überschwänglich, so etwas Großartiges habe er wohl noch nie erlebt.

Dabei schienen die Besuche in Berlin und Paris schon im Vorfeld unter einem schlechten Stern zu stehen. Noch vor seiner Abreise hatte Johnson in einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk seine entscheidende Forderung in Sachen Brexit formuliert. Der Backstop müsse aus dem Austrittsabkommen verschwinden, sonst drohe ein Brexit ohne Abkommen am 31. Oktober, erklärte er.

Unter Backstop versteht man die von der EU verlangte Garantie für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland nach dem Brexit. Offene Grenzen sind ein zentraler Bestandteil des Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen mehrheitlich katholischen Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und den mehrheitlich protestantischen Loyalisten beendet wurde. Tusk stellte unmissverständlich klar, dass auf den Backstop ohne angemessene Alternative nicht verzichtet werde. Eine Haltung, die Brüssel seit Langem vertritt.

Vor Johnsons Reisen hatten manche Beobachter vermutet, es gehe dem neuen Premier wohl auch darum, den Europäern schon mal die Schuld in die Schuhe zu schieben, wenn es am Ende zu einem Ausscheiden aus der EU ohne Vertrag kommen sollte. Für den Fall wird vor allem für die britische Wirtschaft mit drastischen Konsequenzen gerechnet. Doch sollte der britische Premierminister geplant haben, sich in Deutschland und Frankreich Körbe abzuholen, war die Reise wohl nur bedingt erfolgreich.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war es am Mittwoch gelungen, die britischen Medien mit der Ansage, in nur 30 Tagen könne möglicherweise eine Lösung für den Streit um den Backstop gefunden werden, in Aufruhr zu versetzen. Die Interpretationen gingen jedoch weit auseinander. Während die "Daily Mail" über einen "Brexit-Schub für Boris" jubelte und der "Telegraph" die "Aussicht auf einen neuen Brexit-Deal" gekommen sah, befand der "Daily Mirror", Merkel habe ein Ultimatum gesetzt und Johnsons Bluff entlarvt.

Die BBC konstatierte dagegen, Merkel habe keine Neuverhandlung des Brexit-Abkommens in Aussicht gestellt, sondern vielmehr über Änderungen an der nicht verbindlichen politischen Erklärung über das künftige Verhältnis zwischen Brüssel und London gesprochen.

In Paris beanspruchten am Donnerstag sowohl Macron als auch Johnson, die Worte der Kanzlerin in ihrem Sinne zu interpretieren. Macron sprach von Zusätzen zum Brexit-Abkommen, ohne an den Grundlagen des Deals zu rütteln. Johnson dagegen fühlte sich "mächtig ermutigt" und verwies auf mögliche technische Lösungen, um Grenzkontrollen zu verhindern. Er habe schließlich neben der Kanzlerin gestanden, als sie von den 30 Tagen gesprochen habe.

Die Ratlosigkeit auch bei Journalisten ging so weit, dass Merkel am Donnerstag ihre Aussage auf Nachfrage noch einmal konkretisieren musste. Die 30 Tage seien sinnbildlich gemeint gewesen, betonte sie. Es gehe darum, "ein Regime zu finden, wie wir das Good Friday Agreement [Karfreitagsabkommen] einerseits einhalten - was der Wunsch der Republik Irland ist genauso wie der Wunsch von Großbritannien - und gleichzeitig die Integrität des Binnenmarkts sichern können."

Doch hatte sie damit alle Zweideutigkeiten beseitigt? Wollte sie das überhaupt? Möglicherweise führt der Weg zum geordneten Brexit am Ende ja über ein Konzept, das die Briten "constructive ambiguity" - konstruktive Mehrdeutigkeit - nennen und das im Karfreitagsabkommen prominent zur Anwendung kam. Dabei geht es darum, Lösungen zu finden, die jede Seite auf ihre Weise interpretieren kann. Beide können damit beanspruchen, als Sieger aus einer Verhandlung gegangen zu sein.

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