Karl-Siegbert Rehberg ist gebürtiger Aachener, aber seit 1992 Gründungsprofessor für Soziologie an der Technischen Universität Dresden. Der 77-Jährige hat den Eindruck, dass Teile des Ostens von vielen Jüngeren im Westen als rechtsextrem wahrgenommen werden. Rehberg erinnert sich an den Fall eines etwa 25 Jahre alten Nachwuchs-Wissenschaftlers, den er liebend gern in Dresden eingestellt hätte. „Ein sehr begabter Mann, vom Aussehen her ein wenig schräg. Und der wollte die Stelle in Dresden auf keinen Fall haben, weil er befürchtete, schon im Hauptbahnhof zusammengeschlagen zu werden. Ich fand das etwas übertrieben.“ Eine solche Zuspitzung beziehe sich insbesondere auf Dresden, dessen Ansehen durch die Pegida-Demonstrationen nachhaltig gelitten habe.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie betont das Zusammenwachsen der jüngeren West- und Ostdeutschen – ungeachtet fortbestehender Mentalitätsunterschiede, die auch er sieht. „Rechtsradikalismus ist in den neuen Ländern stärker verbreitet, aber keine ostdeutsche Spezialität“, unterstreicht er. „Die AfD versucht, die Bürgerbewegung zu usurpieren, aber das wird ihr auf Dauer nicht gelingen.“
Empirische Daten zur Einstellung junger Westdeutscher zum Osten sind rar, konstatiert das Deutsche Jugendinstitut. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat einen auffälligen Mentalitätsunterschied zwischen jüngeren West- und Ostdeutschen zutage gefördert: Demnach fühlt sich jeder fünfte Bürger der Nachwendegeneration im Osten eher als „Ostdeutscher“ denn als „Deutscher“. Ein westdeutsches Pendant zu dieser regionalen Identität gebe es nicht, heißt es dort.
Eine neue Bertelsmann-Studie ergab, dass die Menschen in Ost und West die Wiedervereinigung noch immer sehr unterschiedlich beurteilen – wobei das in wesentlich geringerem Maße für die Jüngeren gelte. „Wir haben Menschen um die 60 befragt, also Leute, die mitten im Leben standen, als die deutsche Einheit stattgefunden hat, und wir haben etwa 30-Jährige ausgewählt, die die deutsche Einheit nur als Erzählung, nur als Vergangenheit kennen“, erläutert Studienautor Kai Unzicker. Hier würden große Unterschiede zwischen Jung und Alt sichtbar.
Die älteren Ostdeutschen zeigten deutlich die „Verletzungen und Vernarbungen der damaligen Zeit“, sagt Unzicker. „Bei den älteren Westdeutschen haben wir auch noch das Bewusstsein dafür, dass die Wende ein bedeutendes Ereignis gewesen ist, sie haben das aber im Wesentlichen in den Nachrichten verfolgt.“ Für die Jüngeren dagegen sei die Wiedervereinigung weit weg – und zwar egal ob sie im Westen oder im Osten lebten.
Dazu passt eine Beobachtung von Christine Strotmann, die bei der Körber-Stiftung das Projekt „Nachwendekinder: 30 Jahre Deutsche Einheit“ leitet. An dem Projekt beteiligt sind rund 30 ehemalige Gewinner des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, die zwischen 1989 und 1994 geboren wurden. Selbst bei diesen Akademikern fiel auf: „Besonders wenn sie aus Westdeutschland kommen, wissen junge Menschen sehr wenig über die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor Ort, den Einfluss auf das Leben der Menschen.“ Insgesamt würden Fremdheitsgefühle aber nachlassen, sagt Strotmann: „Bedenken, in den Osten zu ziehen, gibt es nicht.“
Auch Professor Rehberg glaubt, dass die Jüngeren in Ost und West heute mehr verbindet als die Älteren. „Bei Älteren gibt es noch immer ein gewisses Fremdheitsgefühl“, stellt er fest. „Lange wurde es zum Beispiel als Abenteuer betrachtet, zum Studieren in den ,Fernen Osten’ zu gehen. Bei den Jüngeren ist das aber nur noch in viel geringerem Maße der Fall, wenn überhaupt.“
Auch die drei Zweiradlenker aus Köln tief im Westen können sich vorstellen, demnächst in einer größeren ostdeutschen Stadt zu studieren. Vor allem Leipzig hat ihnen gut gefallen. „Das kam mir vor wie Nippes“, sagt Anton – wobei er Nippes als bunten und leicht alternativ angehauchten Stadtteil von Köln schätzt. „Fürs Studium wär‘s schön in einer Stadt wie Leipzig oder Dresden“, sagt auch Lovis. Aber dann macht er doch noch eine Einschränkung: „Ich glaube, danach würd‘s mich schon wieder zurückziehen ins Rheinland.“