30 Jahre wiedervereinigt Tiefer Westen, ferner Osten – der Blick nach drüben

Von Christoph Driessen
„Fürs Studium wär‘s schön in einer Stadt wie Leipzig oder Dresden“: die drei Kölner Abiturienten (von links) Anton, Lovis und Till vor der Dresdner Frauenkirche. Foto: -/privat/dpa Quelle: Unbekannt

KÖLN/DRESDEN. Wie nehmen junge Menschen aus Westdeutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung den Osten wahr? Die Begriffe „Jammer-Ossi“ und „Besser-Wessi“ sagen ihnen nichts mehr. Aber durchweg positiv ist ihre Sicht deshalb nicht. Die „Nachwende-Kinder“ wissen nur wenig über die jüngere deutsche Geschichte.

 
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Die drei Kölner Abiturienten Lovis, Till und Anton sind diesen Sommer mit dem Fahrrad in den Osten gefahren. Auf Instagram posten sie Bilder, bei denen man Lust bekommt, auch loszuradeln: Die 18-Jährigen liegen zwischen Bäumen in ihren Hängematten, essen im Freien und schwimmen im See. Mittlerweile sind sie in Polen unterwegs.

Ihre Eindrücke von Ostdeutschland sind gemischt. Die Städte fanden sie schöner als im Westen, vor allem wegen des großen Altbaubestands. „Das war beeindruckend, das gibt‘s nur an ganz wenigen Stellen in Köln“, sagt Anton. Auch finde man noch kleine altmodische Läden und Supermärkte, wie sie im Westen schon lange verschwunden seien. Dresden erschien ihnen sehr wohlhabend, „ein bisschen wie Düsseldorf“.

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Aber sie nehmen auch andere Erfahrungen mit nach Haus. „Die Menschen sind distanzierter“, ist Lovis aufgefallen. „Im Westen hat uns jeder, der uns gesehen hat, ein Lächeln geschenkt oder zugewunken, während wir im Osten schon ziemlich kalte Blicke bekamen.“ Anton bestätigt das: „Wenn man im Vorbeifahren gelächelt oder genickt hat, kam oft nichts zurück.“

Im sächsischen Grimma beteiligten sich die drei an einer Demo gegen einen Auftritt der Rechtsextremisten Björn Höcke und Andreas Kalbitz. „Da hat man schon gemerkt, dass der Widerstand da geringer ist“, sagt Anton. „Die Demonstranten waren alle ungefähr so alt wie wir, praktisch keine Älteren, das fand ich schon heftig. Da waren mehr Leute für als gegen die AfD.“ Lovis ist sich sicher: „Da hätte man in Köln und überhaupt in NRW viel mehr Gegendemonstranten – gerade wenn es um so hochrangige AfD-Leute geht.“

Die Sichtweise der drei jungen Kölner ist nicht untypisch. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung klingen Begriffe wie „Besser-Wessi“ und „Jammer-Ossi“ zwar genauso altmodisch wie „die neuen Länder“. Was aber nicht heißt, dass das Verhältnis ganz unkompliziert ist.

Karl-Siegbert Rehberg ist gebürtiger Aachener, aber seit 1992 Gründungsprofessor für Soziologie an der Technischen Universität Dresden. Der 77-Jährige hat den Eindruck, dass Teile des Ostens von vielen Jüngeren im Westen als rechtsextrem wahrgenommen werden. Rehberg erinnert sich an den Fall eines etwa 25 Jahre alten Nachwuchs-Wissenschaftlers, den er liebend gern in Dresden eingestellt hätte. „Ein sehr begabter Mann, vom Aussehen her ein wenig schräg. Und der wollte die Stelle in Dresden auf keinen Fall haben, weil er befürchtete, schon im Hauptbahnhof zusammengeschlagen zu werden. Ich fand das etwas übertrieben.“ Eine solche Zuspitzung beziehe sich insbesondere auf Dresden, dessen Ansehen durch die Pegida-Demonstrationen nachhaltig gelitten habe.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie betont das Zusammenwachsen der jüngeren West- und Ostdeutschen – ungeachtet fortbestehender Mentalitätsunterschiede, die auch er sieht. „Rechtsradikalismus ist in den neuen Ländern stärker verbreitet, aber keine ostdeutsche Spezialität“, unterstreicht er. „Die AfD versucht, die Bürgerbewegung zu usurpieren, aber das wird ihr auf Dauer nicht gelingen.“

Empirische Daten zur Einstellung junger Westdeutscher zum Osten sind rar, konstatiert das Deutsche Jugendinstitut. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat einen auffälligen Mentalitätsunterschied zwischen jüngeren West- und Ostdeutschen zutage gefördert: Demnach fühlt sich jeder fünfte Bürger der Nachwendegeneration im Osten eher als „Ostdeutscher“ denn als „Deutscher“. Ein westdeutsches Pendant zu dieser regionalen Identität gebe es nicht, heißt es dort.

Eine neue Bertelsmann-Studie ergab, dass die Menschen in Ost und West die Wiedervereinigung noch immer sehr unterschiedlich beurteilen – wobei das in wesentlich geringerem Maße für die Jüngeren gelte. „Wir haben Menschen um die 60 befragt, also Leute, die mitten im Leben standen, als die deutsche Einheit stattgefunden hat, und wir haben etwa 30-Jährige ausgewählt, die die deutsche Einheit nur als Erzählung, nur als Vergangenheit kennen“, erläutert Studienautor Kai Unzicker. Hier würden große Unterschiede zwischen Jung und Alt sichtbar.

Die älteren Ostdeutschen zeigten deutlich die „Verletzungen und Vernarbungen der damaligen Zeit“, sagt Unzicker. „Bei den älteren Westdeutschen haben wir auch noch das Bewusstsein dafür, dass die Wende ein bedeutendes Ereignis gewesen ist, sie haben das aber im Wesentlichen in den Nachrichten verfolgt.“ Für die Jüngeren dagegen sei die Wiedervereinigung weit weg – und zwar egal ob sie im Westen oder im Osten lebten.

Dazu passt eine Beobachtung von Christine Strotmann, die bei der Körber-Stiftung das Projekt „Nachwendekinder: 30 Jahre Deutsche Einheit“ leitet. An dem Projekt beteiligt sind rund 30 ehemalige Gewinner des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, die zwischen 1989 und 1994 geboren wurden. Selbst bei diesen Akademikern fiel auf: „Besonders wenn sie aus Westdeutschland kommen, wissen junge Menschen sehr wenig über die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor Ort, den Einfluss auf das Leben der Menschen.“ Insgesamt würden Fremdheitsgefühle aber nachlassen, sagt Strotmann: „Bedenken, in den Osten zu ziehen, gibt es nicht.“

Auch Professor Rehberg glaubt, dass die Jüngeren in Ost und West heute mehr verbindet als die Älteren. „Bei Älteren gibt es noch immer ein gewisses Fremdheitsgefühl“, stellt er fest. „Lange wurde es zum Beispiel als Abenteuer betrachtet, zum Studieren in den ,Fernen Osten’ zu gehen. Bei den Jüngeren ist das aber nur noch in viel geringerem Maße der Fall, wenn überhaupt.“

Auch die drei Zweiradlenker aus Köln tief im Westen können sich vorstellen, demnächst in einer größeren ostdeutschen Stadt zu studieren. Vor allem Leipzig hat ihnen gut gefallen. „Das kam mir vor wie Nippes“, sagt Anton – wobei er Nippes als bunten und leicht alternativ angehauchten Stadtteil von Köln schätzt. „Fürs Studium wär‘s schön in einer Stadt wie Leipzig oder Dresden“, sagt auch Lovis. Aber dann macht er doch noch eine Einschränkung: „Ich glaube, danach würd‘s mich schon wieder zurückziehen ins Rheinland.“