Zu dieser Zeit waren im Handelskammerbezirk Oberfranken, der 1933 noch 347 jüdische Unternehmen verzeichnet hatte, bereits über hundert Gesellschaften „entjudet“. Zu ihnen gehörte auch die Porzellanfabrik Philipp Rosenthals. In Selb war es wie in vielen ähnlichen Fällen: Karrieristen in Vorstand und Aufsichtsrat des Unternehmens setzten die Eigentümer unter Druck. Sie beklagten sich beim Gauleiter darüber, dass Rosenthal den Betrieb mit „liberalistisch-kapitalistischen Mitteln“ gefährde. Den Machtkampf entschied am Ende ein Staatskommissar, der die Familie mit sofortiger Verhaftung bedrohte. So unterzeichneten die Rosenthals den „Bayreuther Vertrag“ und büßten die Kontrolle über ihr Eigentum endgültig ein. Philipp Rosenthal starb 1937. Seine Witwe floh nach Südfrankreich, und ihr Sohn ging nach England.
Das Geschäft ist typisch für jene Grauzone zwischen politischem Druck, offener Erpressung und scheinbarer Legalität, in der sich viele „Arisierungen“ vor 1938 abspielten. Ganz gleich, ob man ein Unternehmen von seinen wichtigsten Ressourcen abschnitt oder Druck auf seine Kunden, Lieferanten oder Geschäftspartner ausübte: Auch die unteren Ränge der NS-Hierarchie verfügten über Machtmittel, um den Wert jüdischer Unternehmen zu verringern oder ihnen das Geschäft unmöglich zu machen. Immer wieder kam es zu Verkäufen, die nach außen zwar die Form eines privatrechtlichen Vertragsabschlusses hatten, ohne Druck aber nie getätigt worden wären – und das zu Preisen, die deutlich unter Wert lagen.
Wer aus Deutschland floh, wurde ebenfalls beraubt: Jüdischen Emigranten nahm der NS-Staat eine knappe Milliarde ab. In Berlin mühte man sich derweil um gesetzliche Grundlagen für den flächendeckenden Vermögenstransfer. Anfangs mussten Juden ihren Besitz nur registrieren lassen. Den Pogrom vom 9. November 1938 nahm Hermann Göring dann zum Anlass, um Juden ein Berufsverbot zu erteilen und ihnen eine Sondersteuer von einer Milliarde Mark abzuverlangen. Vier Wochen später zwang eine Verordnung sämtliche Juden dazu, ihre Immobilien zu verkaufen. Gewerbebetriebe waren entweder zu liquidieren oder einem Treuhänder zu übergeben, der ihren Verkauf betrieb. Wertpapiere, Edelmetalle und Devisen mussten abgeliefert werden, ebenso Schmuck und Kunstgegenstände.
Banken und Makler zockten ab
Zwar ging es hier auch darum, aus der „Arisierung“ einen Verwaltungsakt zu machen. Aber ebenso wichtig war der Versuch, den Sumpf der Korruption auszutrocknen. Weil die Gauwirtschaftsberater der NSDAP sämtliche Kaufverträge genehmigen mussten, bekamen oft nur solche Käufer den Zuschlag, die an die Partei „spendeten“. In Franken galt ein Satz von anderthalb bis drei Prozent des Kaufpreises als obligatorisch.
Viele verdienten an der „Arisierung“: Neben den Banken vermittelten Makler, die sich auf bestimmte Branchen spezialisierten. Andere machten ihre Kontakte in den Parteiapparat zu Geld. Gestapo-Beamte erhoben „Beschleunigungsgebühren“, Finanzbeamte stellten die für die Auswanderung nötigen Papiere nur gegen Bares aus, und immer wieder machten sich Rechtsanwälte mit Honorarvorschüssen aus dem Staub. Nicht zuletzt schuf der organisierte Raub wohl auch eine mentale Voraussetzung für den individuellen Profit im Krieg. In Polen bedurfte es jedenfalls keines ausdrücklichen Auftrags an die Wehrmachtsoldaten, um in die Wohnungen und Häuser wohlhabender Juden einzudringen und dort Wertsachen zu rauben. Die Truppenjustiz ließ diese Plünderungen bis in den Herbst 1940 hinein ungestraft.
Mit Deportation 1941: Letzte Bereicherung
Als dann die Deportation der deutschen Juden im Spätsommer 1941 begann, bot sich eine allerletzte Chance zur Bereicherung an ihrem Vermögen, und nicht wenige gewöhnliche Deutsche nutzten sie. Sämtliche Juden einer Stadt oder eines Dorfes fortzuschaffen und zu ermorden bedeutete, dass diese Wohnungen und Hausrat zurückzulassen hatten. Das Inventar fiel dem Staat in die Hand, der es anschließend verwertete – mal in Form großer Auktionen, mal als Versteigerung unter den Nachbarn an der offenen Wohnungstür. Die Käufer erhielten Quittungen, die Angaben zu den jüdischen Vorbesitzern machten.
In Bayreuth brachten örtliche Polizisten die Juden im November 1941 zunächst nach Nürnberg-Langwasser, von wo sie ins Baltikum gefahren wurden. Drei Tage dauerte die Reise. Sie endete im Wald von Bikernieki, knapp zehn Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Riga, wo knapp 40 000 Menschen ermordet wurden. Die Bayreuther Juden hatten sich nackt auszuziehen und im Kiefernwald vor einer offenen Grube aufzustellen. Männer der Sicherheitspolizei und lettische Hilfskräfte erschossen sie.
Das Haus, das Hans Schemm sich von Simon Pfefferkorn und seiner Familie unter den Nagel gerissen hatte, brannte – wie Sylvia Habermann schreibt – im April „unter ungeklärten Umständen aus“. Wiederaufbau-Pläne in den Jahren 1947 und 1947 seien entweder abgelehnt worden oder hätten sich zerschlagen.
„Viele haben nach den Regeln des Systems gespielt“
Von Eric Waha
Was hielt das System des Nationalsozialismus im Innersten zusammen? Das ist eine Kernfrage, der sich Prof. Tim Schanetzky angenommen hat, der für drei Semester an der Bayreuther Uni Wirtschafts- und Sozialgeschichte lehrt. Schanetzky (48) kommt im Gespräch mit dem Kurier zu dem Schluss, dass „viele nach den Regeln des Systems gespielt haben“ – also mitgemacht und partizipiert haben müssen.
Auch und gerade dann, wenn es um Geld und Besitz von Juden ging, die von den Nazis wirtschaftlich drangsaliert und ihres Eigentums auf diese Weise beraubt worden sind. Bevor viele von ihnen durch die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gequält und ermordet worden sind.
Der Fall Pfefferkorn, den Schanetzky in seinem Artikel exemplarisch für die Arisierungs-Welle auch in Bayreuth in den Fokus rückt, ist ein Fall von vielen, die allerdings vom „Forschungsstand nicht herausragend“ beleuchtet seien in Bayreuth. Ein Umstand, der Schanetzky überrascht hat, denn: „Gerade in den 80er und 90er Jahren war das ein Thema, zu dem viele Lokalstudien entstanden sind. Es gibt die Tendenz, dass das in vielen Städten sehr gut erforscht ist. Gerade in Großstädten und Universitätsstädten ist das Thema sehr intensiv bearbeitet worden“, sagt Schanetzky.
Eigentum wurde an Nachbarn verramscht
Denn es sei ein Themenbereich, der sich auch für die Quellenforschung durch Schüler oder studentische und Projektgruppen anbiete. „Durch die ersten Besuche im Stadtarchiv oder durch Presse-Recherche.“ Und weil vieles sehr gut dokumentiert worden sein, wie die Forschung in anderen deutschen Städten gezeigt habe: Das Eigentum jüdischer Bürger sei „an die ehemaligen Nachbarn auf der Haustürschwelle für Pfennigbeträge“ verramscht worden, mit dem Wohnungs-Inventar „sind ausgebombte Familien ausgestattet worden“. Man hatte die Möbel in großen Hallen zusammengetragen, um sie wieder zu verteilen.
Die vergangenen 15 Jahre in Jena
Schanetzky, der unter anderem das Buch „Kanonen statt Butter“ über Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich geschrieben hat, hat in den vergangenen 15 Jahren in Jena – zuletzt seit 2018 als Leiter des Forschungsprojekts „Politische Bildung. Ideen und Praktiken der Demokratisierung nach 1945“ – unter anderem auch am Fall der Unternehmer-Dynastie Flick geforscht. Flick sei im Dritten Reich „einer der großen Profiteure in der Arisierung schlechthin gewesen“, sagt Schanetzky.
Seit dem vergangenen Sommersemester lehrt Tim Schanetzky in Vertretung von Prof. Jan-Otmar Hesse am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Bayreuther Universität – und freut sich darauf, jetzt „endlich in Präsenz“ mit den Studierenden in seinem fachbereich durchstarten zu können.
Studiert hat Tim Schanetzky, der ursprünglich aus Essen stammt, in Bochum, „weil man dort Wirtschafts- und Sozialgeschichte gleichrangig zu den Epochen studieren konnte“, wie er sagt.