„Verwegenster Leichtsinn“ Titanic-Untergang: Was das „Bayreuther Tagblatt“ vor 100 Jahren schrieb

Moritz Mihm und Michael Weiser

BAYREUTH. Hunderte von Kilometern ist Bayreuth von jeder Meeresküste entfernt. Am 16. April 1912 aber ist der Atlantik ganz nahe.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Fast wie in einem Liveticker präsentiert das „Bayreuther Tagblatt“ eine Abfolge von Telegrammen, die Wasserstandsmeldungen einer Katastrophe und eines globalen Medienereignisses.

Unter dem Titel „Ein Dampfer-Unglück“ beginnt das Tagblatt mit den Berichten: „Cape Race. 15. April. Der Dampfer Titanic der Whitestarlinie ist am Sonntagabend mit einem Eisberg zusammengestoßen. Er hat um Hilfe gebeten.“ Am Ende steht zu lesen: „New York. Der ,Titanic’ ist nachts um zwei Uhr zwanzig amerikanischer Zeit gesunken.“

Gouverneur von Togo

Die Welt, wie man sie am 16. April 1912 in Bayreuth erfährt. Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg wird zum Gouverneur von Togo bestimmt. Dem Kaiser ist ein Zitat untergeschoben worden. „Wenn ich ein so intelligentes und patriotisches Volk wie das italienische hätte, würde ich die Hälfte Europas erobern“, sollen Majestät in Italien gesagt haben. „Es ist unglaublich, was für dummes Zeug sich Wilhelm II. nachreden lassen muss“, schließt der Redakteur des Bayreuther Tagblatts.

In Hohenstrauß hat sich ein liberaler Volksverein gebildet, während in München erwartet wird, dass der „Konflikt zwischen Zentrum und Liberalen“ im Landtag „eher verschärft als milder sein werde“. Das „Lichtenfelser Tagblatt“ berichtet, wie das Lagerbier erfunden wurde. Außerdem unterhält der Fortsetzungsroman „Der Herr im Hause“.

Info-Chaos

In der Spalte ganz links dagegen wurden die Bayreuther Zeuge – nein, nicht der Katastrophe der Titanic an sich, sondern vielmehr des Informationschaos. Die Nachrichtenlage ist, gelinde gesagt, unübersichtlich. „Der Star meldet aus Halifax, dass der (sic!) Titanic noch flott sei und langsam nach Halifax fahre“, steht da. Und drunter: Ein „Funkentelegramm“ besagt, dass alle Passagiere gerettet seien.

Verlässlicher meldet um „5 Uhr vormittags“ das Wolffsche Depeschenbüro: „Die White-Star-Linie gibt jetzt zu, daß der Titanic gesunken ist und von 2200 Passagieren wahrscheinlich nur 675 gerettet sind.“ Damit liegt es kurz vor Redaktionsschluss bemerkenswert nahe an den endgültigen Zahlen.

Kabel verbindet

Ein Zeitungsmacher im Jahre 1912. Satelliten, Fernseher und all die Hightechelektronik von heute hat er nicht zur Verfügung. Immerhin: Seit 1866 verbindet ein Kabel auf dem Grund des Atlantiks die Alte und die Neue Welt. Die Neuigkeiten kommen bevorzugt per Telegramm aus der großen Welt in die kleine ehemalige Residenzstadt. Manchmal schreiben auch Korrespondenten.

Seit dem Krimkrieg in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts gibt es Pressefotos. Auch die Bildtelegrafie gibt es schon. 1904 ist von München nach Nürnberg erstmals ein Foto übermittelt worden, nach dem Verfahren Arthur Korns. Doch die Reproduktion für Zeitungen ist noch aufwendig und teuer. Schiffe morsen noch.

Schon am Tag eins nach der Katastrophe befasst sich ein Redakteur mit der Konstruktion der Titanic: „Übrigens mußte man es bisher bei der Zelleneinteilung dieser großen Dampfer, bei den zahlreichen Schotten und anderen Sicherungen gegen die Gefahr des Sinkens für ausgeschlossen halten, dass ein solches Riesenschiff selbst bei einem Zusammenstoße untergehen würde.“ Mit Zellen sind die Schotte gemeint, die verhindern sollten, dass der gesamte Schiffsraum volllaufen würde. Allerdings hatte niemand damit gerechnet, dass ein Eisberg gleich in sechs Abteilungen die Schiffswand eindrücken würde.

Info-Verdichtung

Am 18. April haben sich die Informationen verdichtet. „Die oberen Decks sowie einige Rettungsboote wurden infolge des Aufpralls zersplittert, das ganze Vorderteil zu einer unförmlichen Stahlmasse zerquetscht“, zitiert die Zeitung „drahtlose Meldungen vom Dampfer Bruce“.

Das „Tagblatt“ kommentiert und analysiert. Es dokumentiert auf einer Karte in etwa den Ort des Untergangs, erklärt, wie es dazu kommen kann, dass mitten im April Eisberge so weit südlich im Atlantik treiben. Und es kritisiert den „Schiffsgrößen-Wahn“. „Die Jungfernreise der Titanic“ – nun ist das Schiff mal wieder weiblich – „ist in ganz anderer Art zu einem flammenden Rekord geworden, als die Direktoren der White-Star-Linie und ihr Kapitän es sich vorgestellt haben, zu einem Rekord verwegensten Leichtsinns, unentschuldbaren Größenwahns“, schreibt F. Kallenberg am 19. April.

Die schiere Größe mache Unglücke wahrscheinlich, meint er. „Und Gleiches werden wir über kurz oder lang mit den bereits in die ungeheuerlichsten Dimensionen gesteigerten Dreadnoughts erleben!“ Eine treffende Prophetie: Eben das ehrgeizige Flottenprogramm Wilhelms mit seinen neuen Schlachtschiffen entfremdete das Reich von England und gehört zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs.

Augenzeugenberichte

Am 20. April lesen die Bayreuther wieder Nachrichten aus erster Hand. Am Tag zuvor sind gerettete Passagiere an Bord der „Carpathia“ im Hafen eingetroffen. Ein Passagier Beasley berichtet, er habe nur eine „kurze Erschütterung“ verspürt, als die Titanic den Eisberg rammte. „Nirgendwo herrschte Panik. Das Schiff lag ganz still. Es zeigte sich keine Spur von Unruhe oder Drängen nach den Rettungsbooten.“ Zweieinhalb Stunden später ist das Schiff gesunken, und Beasley hört das „greuliche Schreien von Hunderten von Mitmenschen, die in dem eiskalten Wasser ihr Leben lassen mussten“.

Außerdem wird von ersten Ermittlungen berichtet: Warum dampfte die Titanic fast mit Höchstgeschwindigkeit ins Verhängnis? Woher kamen die Falschmeldungen? Hatte die White Star Linie etwas zu verbergen? Einen der Schurken in diesem Drama meint man bereits ausgemacht zu haben: Den Direktor der Schifffahrtslinie, Bruce Ismay.

Letzter Bericht: 13. Mai

Das Bayreuther Tagblatt verliert ab 25. April das Interesse. Bis in den Mai hinein berichtet man über Sicherheit in der deutschen Schifffahrt, am 13. Mai berichtet es zum vorerst letzten Mal über die Titanic.

Einer der wenigen überlebenden Heizer berichtet, dass in einem Rettungsboot, „das gut 40 Personen hätte aufnehmen können“, lediglich zwölf Menschen gesessen haben sollen. Eine weitere Ungereimtheit in der Geschichte dieser Katastrophe. Noch hundert Jahre später werden längst nicht alle offenen Fragen beantwortet sein.

Bilder